10. Wanqu 婉曲 "Krümmen"
Das "Wanqu" ist das Zurechtlegen der Worte derart, dass sie den Gegenstand nur umschreiben oder andeuten, ihn aber nicht direkt bezeichnen.
Beispiele
Klassisches Chinesisch
"你在尋什麼?" "尋找我 頰邊失落的顏色."
"Ni zai xun shenme?" "Xunzhao wo jiabian shiluo de yanse."
"Was suchst du?" "Ich suche die verlorenen Farben meiner Wangen."
Quelle: Zhang Xiuya "Kindheitsgedanken",
siehe Xiucixue
S. 128
Modernes Chinesisch
小孩子上山就得採花; 到海邊就得檢貝殼, 書袋子進圖書館想撈新智慧 -- 出門人到了巴黎就想 ...
Xiao haizi shang shan jiu dei cai hua; dao haibian jiu dei jian
beike, shudaizi jin tushuguan xiang lao xin zhihui - chumenren dao le Bali jiu xiang ...
Wenn Kinder auf die Berge gehen, müssen sie Blumen pflücken; am
Strand müssen sie Muscheln sammeln; Büchernarren gehen in die
Bibliotheken und wollen sich neues Wissen herausfischen - Leute, welche das Heim verlassen und nach Paris fahren, möchten ...
Quelle: Xu Zhimo "Pariser Fragmente",
siehe Xiucixue
S. 128
Erinnert an ...
- "Tropus"
- "Trope"
- "Anspielung"
- "Umschreibung"
- "Mitverstehen"
- "Euphemismus"
- "Aposiopese"
Ausführliche Erklärung
Der folgende Text ist gleich dem im Buch Xiucixue S. 125ff.
A. Das Wortzurechtlegemuster
1. Hinführung
In der Methodik des
Verstehbarmachens, der Hermeneutik, gibt es
die Unterscheidung der Wort-, Satz-, und Textbedeutung in sensus
litteralis und sensus
allegoricus, geläufig unter der
Bezeichnung "buchstäblicher Sinn" und "übertragener
Sinn".
Seine Felle davonschwimmen sehen
zum Beispiel buchstäblich aufgefasst, bedeutet, dass jemand
tatsächlich am Flussufer steht, seine erbeuteten Felle von Dreck
und Blut waschen will, sie aber aus der Hand verliert und
fortschwimmen sieht, ohne sie zurückholen zu können; im
übertragenen Sinn meint die Wendung den Verlust eines mühsam
erlangten Guts, das man bereits in seinem sicheren Besitz wähnte.
Der "litterale Sinn" der Worte bezeichnet Sache, Person
oder Geschehen direkt, ohne Umschweife; der "allegorische Sinn"
hingegen ist gleichsam wie ein Rätsel aufgegeben, muss erst
gesucht werden, nachdem das Verstehen am Text die Erfahrung gemacht
hat, dass es so, wie es auf Anhieb die Worte aufgefasst hat, in
Wahrheit nicht gemeint sein kann.
Diese Krümmung, welche das Verstehen im allegorischen
Sinnverständnis nachzuvollziehen hat, wird durch den
chinesischen Ausdruck "Wanqu", "Krümmen der
Worte", deutlich bezeichnet. Das Gegenteil wäre das
"Gerademachen der Worte", wofür aber ein Terminus im
hier dargestellten Begriffskatalog der Xiucixue fehlt.
Ich möchte noch auf eine andere, spielerische Weise, zum
Verständnis des Wanqu hinführen. Der Leser möge das
folgende Sprachspiel selbst versuchen, das ich "Umstellspiel"
nenne. Aus "alltäglichen Sätzen" werden
dadurch zuweilen "poetische Sätze", welche sich nur im
allegorischen Sinn verstehen lassen.
Umstellspiel
Spielanleitung: Nimm zwei gewöhnliche Alltagssätze,
die möglichst einfach und grammatisch ähnlich gebaut sind,
sowie auf anschauliche und nicht abstrakte Weise Sachen, Personen
oder Geschehnisse bezeichnen. Vertausche sodann willkürlich zwei
gleiche Satzglieder, so dass sich zwei unerwartet neue Sätze
ergeben. Probiere so lange, bis du die Alltagssätze verlassen
hast. Versuche jeden, selbst den abstrusesten Satz auf die eine oder
andere Weise allegorisch zu verstehen, selbst wenn der Sinn anfangs
sehr rätselhaft und abwegig erscheint. Erinnere wahre oder
erfinde phantastische Situationen so lange, bis sich ein Sinn
einstellt.
Analoge Termini
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LAUSBERG Bd. 1 S. 282
ff: "tropus"
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LEMMERMANN S. 127 f:
"Anspielung", S. 128: "Umschreibung", S. 130
f: "Mitverstehen"
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THALMAYR S. 47 f:
"Euphemismus" , S. 98 ff: "Aposiopese"
(Textbeispiele)
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LINK S. 140 ff: "Trope"
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2. Das Wort "wanqu"
婉 wan
und 曲 qu
gehören zu jener Gruppe von Wörtern, deren gemeinsames
Merkmal die Bezeichnung des Nichtgeraden (不直
bu
zhi "nicht gerade")
ist (屈 qu,
詘 qu,
曲 qu,
枉 wang,
宛 wan,
彎 wan)
.
Die Wortgruppe bezeichnet vor allem "gekrümmte" Dinge.
Dem Schriftzeichen 婉 wan
ist im Unterschied zu 宛 wan
das Schriftzeichen 女 nü
"Frau" vorangestellt,
so dass 婉 wan
das Nichtgerade im menschlichen Bereich anzeigt. Es kann
beispielsweise die Art des Sprechens entweder "gerade und offen"
(說話 很直爽
shuo
hua hen
zhishuang)
oder "verhohlen und umschweifig" (說話
很婉轉 shuo
hua hen
wanzhuan) sein. Im ersten Fall
wird die Meinung unvermittelt ausgesprochen, im zweiten wird etwas
vorgeschoben, von dem aus der Rezipient auf das eigentlich Gemeinte
zu folgern hat.
3. Begriffsbestimmung
Das Wanqu ist der Wortgebrauch in übertragener Bedeutung. Das
Verständnis der vermittels eines Wanqu gebildeten Sätze
erfolgt stufenweise. Der Satz A fundiert die Bedeutung B, und die
Bedeutung B wiederum fundiert die Bedeutung C. Der Satz A wird nur
verstanden, wenn das Verständnis bei B nicht haltmacht und zu C
fortschreitet. Dem Sprachgebilde liegt daher in semantischer Hinsicht
eine transitorische Relation zugrunde, zumal das Verständnis von
C über B vermittelt ist und B nur eine Durchgangsstufe
darstellt. Die Funktion des Wanqu besteht in der Bildung dieser Art
der Verstehensgrundlage.
4. Beispiele
Im folgenden ersten Beispiel wird die Bedeutung "Kindheit"
durch das Beschreiben einer typischen Eigenschaft von Kindern
paraphrasiert. Im zweiten Beispiel wird Kritik an den Touristen
geübt, die nach Paris kommen. Die Kritik selbst wird nicht
ausgesprochen. Bevor sie ausgesprochen wird, reißt der Satz
zwar ab, aus den vorhergehenden Sätzen lässt sich jedoch
das Fehlende ableiten und ergänzen. In beiden Fällen wird
das "eigentlich Gemeinte" zwar angezeigt, aber nicht
ausgesprochen.
Beispiele
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"你在尋什麼?"
"尋找我
頰邊失落的顏色."
"Ni zai xun shenme?"
"Xunzhao wo jiabian shiluo de yanse."
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"Was suchst du?" "Ich suche die verlorenen Farben
meiner Wangen."
(Zhang Xiuya
"Kindheitsgedanken")
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小孩子上山就得採
花;
到海邊就得檢貝殼,
書獃子進圖書館想撈新
智慧
– 出門人到了
巴黎就想
...
Xiao haizi shang shan jiu
dei cai hua; dao haibian jiu dei jian
beike, shudaizi jin tushuguan xiang lao xin zhihui –
chumenren dao le Bali jiu
xiang ...
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Wenn Kinder auf die Berge gehen, müssen sie Blumen pflücken;
am Strand müssen sie Muscheln sammeln; Büchernarren
gehen in die Bibliotheken und wollen sich neues Wissen
herausfischen – Leute, welche das Heim verlassen und nach
Paris fahren, möchten ...
(Xu Zhimo "Pariser
Fragmente")
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5. Das semantische Schichtengebilde
Die eigentümliche Struktur des Wanqu lässt sich im Bild
der Schichtung erfassen. In einem Schichtengebilde trägt jeweils
die untere die obere Schicht, und die oberste wird durch Vermittlung
aller zugrundeliegenden getragen. Die nächst untere Schichte
könnte stets ohne die nächst obere existieren. Die nächst
obere hingegen hat jeweils die nächst untere zu ihrer
Voraussetzung. In ähnlicher Weise sind die Dependenzverhältnisse
des Wanqu beschaffen.
Es gibt mehrere Sinnschichten. Die unterste Schicht bildet das
Verständnis des Satzes im wortwörtlichen Sinn. Dieses
"naive" Sinnverständnis des Satzes fundiert den
übertragenen Sinn. Das heißt, es kann zwar der
wortwörtliche Sinn ohne den übertragenen existieren, der
übertragene hingegen ist in seiner Existenz von ersterem
abhängig, ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich im
Prozess des Verstehens bekundet, zumal dem Erfassen des übertragenen
das Verständnis des buchstäblichen Sinns vorangehen muss.
Der übertragene Sinn kann sich aus weiteren Sinnschichten
zusammensetzen. In der Textinterpretation beispielsweise wird nicht
selten wiederholt von einer Sinnschicht zur nächsten
fortgegangen. Das Verständnis des mithilfe des Wanqu gebildeten
Satzes ist eine "Minimalinterpretation", zumal es in der
Regel von der wortwörtlichen Bedeutung nur auf die nächsthöhere
Sinnschicht weitergeht, um bei dieser stehenzubleiben.
Der Sinn, bei welchem das Verständnis ansetzt, lässt
sich füglich als "Primärsinn" bezeichnen. Die
vermittelnden Sinnschichten, welche zwischen dem Primärsinn und
der letzten Sinnschicht stehen, als "(primärer, sekundärer,
tertiärer ...) Medialsinn". Die letzte Sinnschicht ist der
"Terminalsinn". Das Verständnis des Wanqu setzt beim
Primärsinn an und zielt auf das Verständnis des
Terminalsinns. Der Terminalsinn kann durch mehrere Medialsinne
vermittelt sein. Da jeweils die untere Sinnschicht von der oberen
unabhängig ist, ergibt sich "von unten nach oben"
kein notwendiges Sinnverständnis, das heißt, das Verstehen
der jeweils nächsthöheren Sinnschicht hat den Charakter des
Erratens. Erst nachdem die getragenen Sinnschichten erfasst worden
sind, erscheint das Sinnverständnis ex post in der Weise
notwendig, dass man zu der Sinnschicht D nur dann gelangen kann, wenn
man die Sinnschichten A, B und C durchlaufen hat, mehr noch, dass A
notwendig B, B notwendig C, und C notwendig das Verständnis von
D erfordert, ansonsten einem das "eigentlich Gemeinte"
verschlossen bleibt.
Insofern erscheint jede Interpretation im Anfang als willkürlich.
Erst die fertige Interpretation kann in sich als konsequent gelten.
Die Möglichkeit der Fehlinterpretation, ob im Kleinen oder
Großen, beruht in wesentlichem Maß auf der Ignoranz der
in dem Sinnschichtengebilde des Textes gegebenen
Dependenzverhältnisse.
6. Einteilung und Arten
Formal kann das Wanqu, wie die "Beispiele" oben
anschaulich belegen, nach der Satzstruktur eingeteilt werden.
Entweder handelt es sich um ganze oder abgebrochene Sätze
.
Inhaltlich ist das Wanqu entweder eine Umschreibung
oder eine Anspielung.
Die folgende Einteilung berücksichtigt vornehmlich die
inhaltliche Seite.
Klassifikation - Überblick
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a) Umschreibung
Die Umschreibung gleicht der Definition. Das rotbackige
Jungsein (konstruiert) etwa wird in dem Textauszug von Zhang
Xiuya (siehe oben)
mit den Worten die verlorenen Farben der Wangen umschrieben.
In Form einer nicht wissenschaftlichen, sondern literarischen
Definition, stellt sich diese Umschreibung so dar: rotbackiges
Jungsein (Definiendum) = verlorenen Farben der Wangen
(Definiens). Das Definiendum bildet das Umschriebene, das Definiens
das Umschreibende. Der Autor ersetzt bei der Bildung einer
Umschreibung das Definiendum durch das Definiens. Der Rezipient
hingegen kehrt beim Verstehen der Umschreibung diesen Vorgang um und
ersetzt das Definiens durch das Definiendum.
Im folgenden ersten Beispiel im klassischen Chinesisch wird die
einzigartige Menschlichkeit von Shu umschrieben. Wenn es mehrere wie
Shu gäbe, wären die Straßen, durch welche er geht,
nicht menschenleer. Da keiner wie er ist, ein guter und gütiger
Mensch, ein Mensch im emphatischen Sinn, so sind sie
menschenleer, selbst wenn sich die Menschen in ihr drängen. Im
folgenden zweiten Beispiel im modernen Chinesisch ist es das Ende des
Sommers, das umschrieben wird.
Beispiel: Klassisches Chinesisch
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叔于田,
巷若無人,
豈無人居,
不如叔也,
洵美且仁.
Shu yu tian, xiang ruo wu
ren,
qi wu ren ju, bu ru Shu ye,
xun mei qie ren.
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Shu geht aufs Feld, / die Straßen sind wie menschenleer. /
Sind dort tatsächlich keine Menschen? / [Nein], sie sind
nicht wie Shu, / der wirklich schön und menschenfreundlich
ist.
("Buch der
Lieder")
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Beispiel: Modernes Chinesisch
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就這麼一個長長的
白畫又接著一個美麗的夜
消逝了,
茉莉花香淡了,
蟬聲也沉寂了,
竹榻涼
的生寒.
Jiu zhenme yige changchang
de baihua you jiezhe yige meili de ye
xiaoshi le, molihuaxiang dan le, chansheng ye
chenji le, zhuta liang de sheng han.
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Soeben ist diese eine lange weiße Malerei, wieder gefolgt
von einer schönen Nacht, vergangen, der Duft der
Chrysanthemenblüten ist schwächer geworden, auch das
Grillenzirpen ist völlig verstummt, das Kühle der
Bambuspritsche wird kälter.
(Ai Wen
"Granatapfelbaum-Blüte")
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b) Anspielung
Vermöge der Umschreibung wird ein Begriff durch eine Kette
anderer ersetzt. Das bedeutet, dass eine Umschreibung sprachlich sein
muss, weshalb die drei Auslassungspunkte des Satzabbruchs (" ...
") nicht Anzeichen einer Umschreibung sein können. In der
Regel sind sie das Merkmal der Anspielung. Die Anspielung ist im
Gegensatz zur Umschreibung nicht eine ausgeführte
Sachverhaltsdarstellung, sondern eine verstümmelte
Sachverhaltsdarstellung in der Weise, dass eine
Sachverhaltsdarstellung zwar begonnen, aber nicht vollendet wird
("Ansetzen" plus "Verschweigen"). So lässt
sich aus jeder ausgeführten Sachverhaltsdarstellung dadurch eine
Anspielung machen, dass nur ihr Beginn gesetzt, der Rest hingegen
ausgelassen wird. Im Verstehen einer Anspielung wird dieser Vorgang
wieder umgekehrt. Der Rezipient muss, um die Anspielung zu verstehen,
die vom Autor zwar begonnene aber nicht ausgeführte
Sachverhaltsdarstellung selbständig zuende führen. Stimmen
beide Sachverhaltsdarstellungen, die des Autors und die des
Rezipienten, miteinander überein, hat letzterer die Anspielung
richtig verstanden.
Hua Du hatte seinen Fürsten ermordet und galt als das
Musterbeispiel eines Menschen mit einem 無君之心
wu jun zhi xin
"Herz ohne Fürst". Auf diese Begebenheit spielt Hua
Ou, welcher mit Hua Du verwandt ist, in den Sätzen des folgenden
Beispiels im klassischen Chinesisch an. Ein zweites Beispiel im
modernen Chinesisch ist bereits oben
(Xu Zhimo "Pariser Fragmente") angeführt worden.
Beispiel: Klassisches Chinesisch
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三月,
宋華耦來盟.
[...]
公與之宴.
辭曰:
"君
之先臣督,
得罪于宋
殤公,
名在諸侯之
策.
臣承其祀,
其敢辱
君?
請承命於亞旅."
魯人以為敏.
San yue, Song Hua ou lai
meng. [...] Gong yu zhi yan. Ci yue: "Jun zhi xian
chen Du, de zui yu Song shang gong, ming zai zhu hou zhi ce.
Chen cheng qi si, qi gan ru jun? Qing cheng ming yu ya
lü." Lu ren yi wei min.
|
Im dritten Monat kam Song Hua Ou [Kriegsminister des
Song-Herrscherhauses], um sich zu verbünden. [...] Der
Herzog [Wen von Lu] machte Anstalten, mit ihm zu bankettieren.
Jener lehnte jedoch mit den Worten ab: "[Hua] Du, einer
meiner Verwandten, hatte sich einst dem Song-Herrscherhaus
gegenüber schuldig gemacht, er tötete den Herzog, sein
Name wird in allen Fürstenannalen genannt. Mit seinen Opfern
beladen, darf ich es da wagen, Euch zu beleidigen? Gebt mir Eure
Befehle durch einen Vize-Lü
[einen niederrangigeren Beamten]." Die Leute von
Lu hielten dies [sein Verhalten] für scharfsinnig.
("Kommentar des
Zuo")
|
B. Die Gebrauchsregeln
-
Das Wanqu soll nicht als
Mittel des 寫景 xiejing
"Landschaftsbeschreibung", sondern des 抒情
shuqing "Gefühlsausdruck" gebraucht
werden (Forderung nach Beschränkung des Gebrauchs auf den
"Gefühlsausdruck"). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 205) Die Gefühle lassen
sich nicht einfach und direkt benennen, sondern meistens nur
umschreiben und andeuten, so dass das Wanqu im Feld des
Gefühlsausdrucks seinen angestammten und natürlichen
Bereich besitzt. Die folgenden ersten zwei Textauszüge sind
Beispiele für Landschaftsbeschreibungen. Das erste gilt als
misslungen, weil es sich in obskuren Umschreibungen und Anspielungen
ergeht. Das zweite hebt sich dagegen vorbildlich durch das Verwenden
einer schlichten Sprache ab, welche des Wanqu enträt. Die Verse
sind schön durch Klarheit. Das dritte Beispiel zeigt das Wanqu
regelrecht als Mittel des Gefühlausdrucks.
Regelwidriges Beispiel: Landschaftsbeschreibung (Wanqu)
|
小樓連苑橫空,
下窺繡轂雕鞍驟.
Xiao lou lian yuan heng
kong, xia kui xiu gu diao an
zhou.
|
Das kleine Gebäude verbunden mit dem Garten, quer und leer,
/ späht man hinunter, so sieht man eine gestickte Radnabe
und einen geschnitzten Sattel traben.
(Qin Guan
"Wasserdrache")
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Regelrechtes Beispiel: Landschaftsbeschreibung (kein Wanqu)
|
細雨魚兒出,
微風燕子斜.
Xu yu yuer chu, / wei
feng yanzi xie.
|
Nieselregen, Fische springen, / sanfter Wind, Schwalben segeln.
(Du Fu)
|
Regelrechtes Beispiel: Gefühlsausdruck
(Wanqu)
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玉階生白露,
夜久侵羅襪.
卻下水晶簾,
玲瓏望秋月.
Yu jie sheng bai lu,
ye jiu qin luo
wa.
Que xia shui jing lian,
ling long wang qiu
yue.
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Auf der Jadetreppe bildet sich weißer Tau, / die Nacht
währt lange, dringt in die seidenen Strümpfe ein. /
Zieht sich zurück, fällt herab, wasserfahl, der
Vorhang, / rein und hell, betrachtet den Herbstmond.
(Li Bai
"Jadetreppe")
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-
Obschon beide, der Disput
und die Poesie, emotional sind, und insofern beide dem
"Gefühlsausdruck" zuzurechnen sind, soll ersterer
sachlich bleiben. Umschreibung und Anspielung sind von der geistigen
Auseinandersetzung fernzuhalten, zumal es während dieser gerade
um das Gegenteil, nämlich um die genaue und vollständige,
direkte und treffende Sachverhaltsdarstellung geht (Forderung nach
Beschränkung des Gebrauchs innerhalb des "Gefühlsausdrucks"
auf die Poesie). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 207)
-
Das Wanqu soll zwar verhalten, aber
nicht obskur sein (Forderung nach Verständlichkeit). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 208)
Regelwidriges Beispiel
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殞石打在粗布的肩上
水聲傳自星子的舊鄉
而峰巒蕾一樣地禁錮著花
在我們的跣足下
不能再前
前方是天涯
Yun shi da zai cu bu de
jian shang shui sheng chuan
zi xingzi de jiu xiang er
fengluan lei yiyang de jinguzhe hua
zai women de xianzu
xia
bu neng zai qian qianfang shi tianya.
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Die sterbenden Steine schlagen auf die Schultern des groben
Stoffs / Wassergeräusch rührt von der alten Heimat der
Sterne her / und der Gebirgskamm ... sperrt wie eine Knospe die
Blumen ein / unter unseren bloßen Füßen / man
kommt nicht noch weiter ... vorne ist der Himmelsrand
(Zheng Chouyu
"Damm")
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