13. Jiedai 借代 "Lehnersatz"
Legt man zur Bezeichnung einer Sache nicht die exakten, sondern die von einem Einzelaspekt dieser Sache oder seiner Umgebung gleichsam ausgeliehenen Worte, zurecht, handelt es sich um eine Anwendung des Wortmusters "Jiedai".
Beispiele
Klassisches Chinesisch
明眸皓齒今何在?
Ming mou hao chi jin he zai?
Glänzende Augen und weiße Zähne, wo seid ihr jetzt?
Quelle: Du Fu "Ai-Fluss",
siehe Xiucixue
S. 162
Modernes Chinesisch
一連五六個春夜, 每次 寫到全臺北都睡著, 而 李賀自唐朝醒來.
Yi lian wu liu ge chunye, meici xiedao quan Taibei dou shuizhe, er Li He zi Tangchao xinglai.
In jeder von fünf, sechs aufein- anderfolgenden Frühlings- nächten schrieb ich darüber, wie ganz Taibei schläft, und Li He aus der Tang-Dynastie erwacht.
Quelle: Yu Guangzhong "Nachwort",
siehe Xiucixue
S. 162 f.
Erinnert an ...
- "Metonymie"
- "Metonymia"
- "Synekdoche"
- "Synecdoche"
- "Antonomasie"
- "Antonomasia"
- "Periphrase"
- "Periphrasis"
- "Mitverstehen"
Ausführliche Erklärung
Der folgende Text ist gleich dem im Buch Xiucixue S. 161 ff.
A. Das Wortzurechtlegemuster
1. Hinführung
Er liest ein Buch von Hegel ist ein vollständiger
Satz. lässt man ein Buch von aus, so entsteht der Satz
Er liest Hegel. Hört jemand den Satz Er liest Hegel,
so erkennt er, dass genau genommen eine Person nicht gelesen werden
kann, und ersetzt Hegel durch ein Buch von Hegel, eine
Schrift von Hegel oder ein Werk von Hegel u.?., so dass in
Gedanken die Sätze Er liest ein Buch von Hegel., Er
liest eine Schrift von Hegel. oder Er liest ein Werk von
Hegel. o.?. entstehen. Er löst also die Unvereinbarkeit auf
und stellt einen in sich stimmigen Sachverhalt wieder her. Das ist
die Idee des Jiedai: Das Verstehen stößt auf eine
Unvereinbarkeit und löst diese dadurch auf, dass sie den
gegebenen Ausdruck durch andere so lange ersetzt, bis ein
einsichtiger einheitlicher Sachverhalt entsteht. Dann erscheint es,
als ob der Autor den so gefundenen neuen Begriff durch den gegebenen
ersetzt hat. Ob es sich tatsächlich so verhält, muss wohl
in den meisten Fällen dahingestellt bleiben.
Analoge Termini
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LAUSBERG Bd. 1 S. 292
ff. : "metonymia", S. 295 ff.: "synecdoche",
S. 300 ff. : "antonomasia", S. 305 ff. : "periphrasis"
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LEMMERMANN S. 130 f. :
"Mitverstehen"
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THALMAYR S. 92 ff. :
"Antonomasie" (Textbeispiele)
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LINK S. 144 ff. : "Periphrase", S. 147:
"Antonomasie", S. 147 ff., 366:"Synekdoche",
153 ff, 365: "Metonymie"
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2. Das Wort "jiedai"
借
jie
"leihen" bildet zusammen mit 還
huan
"zurückgeben" ein Antonympaar. 代
dai
bedeutet "ersetzen" im Sinn von "B ersetzt A",
das heißt, B erfüllt anstelle von A die Funktion von A. In
Analogie zu 借詞 jieci
"Lehnwort" übersetze ich 借代
jiedai
mit "Lehnersatz". Der Ersatz, das Substitut,
erscheint als einem andern Zusammenhang entlehnt.
3. Begriffsbestimmung
Das Jiedai ist das Ergebnis einer substitutiven
Ordnungsänderung. Bei bleibender Beziehungsart wird ein
sprachliches Element durch ein anderes, sinnverwandtes Element
ersetzt. Die Beziehung der Sinn-Verwandtschaft besteht in der
Äquipollenz der ausgetauschten Glieder, das heißt, die
Begriffe beziehen sich trotz ihrer inhaltlichen Verschiedenheit auf
denselben Gegenstand (Intension verschieden – Extension
gleich
).
4. Beispiele
Im folgenden ersten Textbeispiel wird die Nennung der Person durch
Aufzählung zweier ihrer Eigenschaften ersetzt. Anstatt Hübsches
Mädchen, wo bist du jetzt, heit es:
Klassisches Chinesisch
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明眸皓齒今何在?
Ming mou hao chi
jin he zai?
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Glänzende Augen und weiße Zähne, wo seid
ihr jetzt?
(Du Fu "Ai-Fluss")
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Im anschließenden zweiten Beispiel
erscheint die Phrase die Bewohner Taibeis durch das Wort
Taibei ersetzt. Das Verständnis muss den umgekehrten Weg
der Satzbildung (Substitution die Bewohner Taibeis durch
Taibei) gehen, zumal nicht eine Stadt, sondern genau genommen nur
die Bewohner einer Stadt zu schlafen vermögen.
Modernes Chinesisch
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一連五六個春夜,
每次
寫到全臺北都睡著,
而
李賀自唐朝醒來.
Yi lian wu liu ge chunye,
meici xiedao quan Taibei dou
shuizhe, er Li He zi Tangchao xinglai.
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In jeder von fünf, sechs aufeinanderfolgenden Frühlings nächten schrieb ich darüber, wie ganz Taibei
schläft, und Li He aus der Tang-Dynastie erwacht.
(Yu Guangzhong
"Nachwort")
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5. Die Unvereinbarkeitsrelation
Das Jiedai ist wie das Piyu eine Form der Als-Auffassung. Die
Als-Auffassung besteht, wie bereits im letzten Kapitel festgestellt
worden ist, darin, einen Gegenstand nicht nur als ihn selbst,
sondern zugleich als einen anderen aufzufassen. Insbesondere das
Jiedai macht deutlich, dass dem Gegenstand dabei mitunter Merkmale
zugeschrieben werden, welche seinem Wesen widersprechen.
Durch den Satz Ganz Taibei schläft beispielsweise wird
eine Stadt als schlafend aufgefasst, obgleich es einzig Organismen
sind, welche zu schlafen die Naturanlage besitzen. Das Verstehen
scheidet "Stadt" und "schlafen" als unvereinbar
aus. Es erkennt aufgrund der Unvereinbarkeit, dass es so wie es
ausgesprochen wird, nicht gemeint sein kann. Es sucht daher den
Widerspruch durch eine andere Sichtweise aufzulösen. Das
eigentlich Gemeinte ist erst dann gefunden, wenn sich eine gesuchte
Variable X und "Schlafen" vom Wesen her vereinen lassen. Da
nur Organismen schlafen können, findet es in den Organismen der
Stadt das eigentlich Gemeinte. Es ersetzt "Organismen der Stadt
(Menschen, Katzen, Hunde ... )" durch "Stadt" und
macht auf diese Weise das Ersetzen seitens des Autors, welcher
"Organismen der Stadt" durch "Stadt" substituiert
hat, rückgängig.
Wenn sich keine Unvereinbarkeit ergibt, kommt kein Jiedai
zustande. Für den Animisten zum Beispiel, welcher alle
Gegenstände als belebt betrachtet, vermag eine Stadt zu
schlafen. Es ist somit unmöglich, ein Jiedai absolut zu
bestimmen. Es hängt jeweils von den Wirklichkeitskonzepten
sowohl des Autors wie Rezipienten ab, ob die
"Unvereinbarkeitsrelation", welche das Verstehen
weiterleitet, zustande kommt. So kann es sein, dass für die
Chinesen früherer Zeit Dinge unvereinbar waren, welche für
uns selbstverständlich vereinbar sind, oder umgekehrt, dass wir
Dinge für inkompatibel halten, welche vormals als kompatibel
angesehen worden sind. Im ersten Fall fehlt eine wesentliche
Voraussetzung für das Verständnis des Jiedai, im zweiten
wird möglicherweise da ein Jiedai angenommen, wo keines
beabsichtigt war.
6. Einteilung und Arten
Das Jiedai wird nach den beiden Momenten der
Substitution: Substituendum (Ersetztes, eigtl. "das zu
Ersetzende") und Substituens (Ersetzendes), eingeteilt. In dem
Satz Ganz Taibei schläft
etwa ersetzt die Lage (Taibei) das Gelegene (Bewohner), so dass die
Lage als Substituens des Gelegenen die Unterart bildet. Die folgende
Einteilung ist nicht allumfassend, sondern beispielhaft.
Klassifikation - Überblick
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(1) Lage ersetzt Gelegenes
Ein
Beispiel für die Kategorie 以事物的所在所屬代替事物
yi
shiwu de suo zai suo shu daiti shiwu
"Lage des Gegenstands und das
Zugehörige ersetzen den Gegenstand"
ist oben (Yu
Guangzhong "Nachwort") angeführt worden.
(2) Merkmal ersetzt Merkmalsträger
Im Beispiel unten steht das Merkmal der zarten
Haut für seinen Merkmalsträger, den ganzen Menschen. Da ein
Mensch nicht eine Haut sein kann, entsteht eine
Unvereinbarkeits-Relation, die das Verstehen weiterleitet. Diese Art
des Ersetzens wird 以事物的特徵或標幟代替事物
yi
shiwu de tezheng huo biaozhi daiti shiwu
"Kennzeichen oder Merkmale des
Gegenstands ersetzen den Gegenstand" genannt.
Beispiel
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怕嗎?
小嫩皮.
Pa ma? Xiao nenpi.
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Fürchtest dich? Kleine Zarthaut [Feigling].
(Sima Zhongyuan
"Totenschädelplatz")
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(3) Macher ersetzt Gemachtes
Im folgenden Beispiel steht der Autor für
sein Werk. Eine Stelle von Zhou Zuoren
auswendig hersagen steht für eine
Stelle aus den Werken von Zhou Zuoren auswendig hersagen.
Im Chinesischen nennt man diese Art des Ersetzens 以事物的作者或產地代替事物
yi
shiwu de zuozhe huo chandi daiti shiwu
"der Hersteller des Gegenstands
oder der Ursprungsort ersetzen den Gegenstand".
Beispiel
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談到白話文學,
他的
程度就不如我了.
因為他提
周作人,
我就背段周
作人,
他提魯迅,
我就背
段魯迅,
他提老舍,
我就
背段老舍...
Tandao baihua wenxue, ta
de chengdu jiu bu ru wo le. Yinwei ta ti
Zhou Zuoren, wo jiu bei duan Zhou Zuoren, ta ti Lu
Xun, wo jiu bei duan Lu Xun, ta ti Lao She, wo
jiu bei duan Lao She ...
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Was die Baihua-Literatur angeht, ist sein Stand nicht wie meiner.
Denn er erwähnt Zhou Zuoren, ich aber sage sogleich
Stellen aus Zhou Zuoren auswendig her, er erwähnt Lu
Xun, ich aber sage sogleich Stellen aus Lu Xun auswendig her, er
erwähnt Lao She, ich aber sage sogleich Stellen von Lao She
auswendig her ...
(Chen Zhifan
"Frühlingswind")
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(4) Art ersetzt Genus
Im folgenden Beispiel ersetzt "Brot"
als eine Unterart das Genus "Nahrung". Im Chinesischen
gehört dieses Wortzurechtlegemuster zur Kategorie 特定和普通相代
teding
he putong xiangdai
"das Besondere und das
Allgemeine werden ausgetauscht".
Ebenso könnte umgekehrt das Genus für die Art stehen.
Beispiel
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我為了明天的麵包及
昨日的債務辛勞地工作.
Wo weile mingtian de
mianbao ji zuori de zhaiwu xinlao de
gongzuo.
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Ich rackere mich wegen des Brots von morgen und den
Schulden von gestern ab.
(Ji Xian
"Existentialismus")
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B. Die Gebrauchsregeln
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Das
Jiedai soll nur verwendet werden, wenn es die Sache
unmissverständlicher trifft, als die direkte Bezeichnung
(Forderung nach Trifftigkeit).
(黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 262) Im folgenden Textauszug
ersetzt der Ausdruck 古人
guren
"die Alten" die Namen der
Brüder Bo Yi und Shu Qi, auf deren Sage hier angespielt wird,
um die Möglichkeit auszuschließen, dass es sich bei den
erwähnten Personen um Zeitgenossen des Autors handeln könnte.
(黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S.
262)
Regelrechtes Beispiel
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Substituendum
(konstruiert)
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Substituens
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伯夷叔齊已不見,
喬木竟
誰過.
Boyi Shuqi yi bu jian,
qiaomu jing shei guo.
Bo Yi und Shu Qi sieht man bereits
nicht mehr, wer wird schlussendlich über die Bäume
gehen?
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古人已不見,
喬木竟誰
過.
Guren yi bu jian, qiaomu
jing shei guo.
Die Alten sieht man bereits nicht
mehr, wer wird schlussendlich über die Bäume gehen?
(Li Xin
"Shouyang-Berg")
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Das
Jiedai soll an Assoziationen reicher sein als die direkte
Bezeichnung (Forderung nach Dichte).
(黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 262 f.) Im folgenden
Textauszug handelt es sich bei den Ersetzungen des Namens Guo Yun
einmal durch das konkretere "Kranich" und einmal durch das
abstraktere "Landesheld" um Anspielungen auf zwei
Klassiker der chinesischen Literatur. Das Wort "Kranich"
spielt auf Liu Yiqings Shishuo xinyu
an: Yang Shuzi hatte einen tanzenden Kranich; als aber die Leute den
Tanz sehen wollten, ließ er entmutigt die Flügel hängen.
Ebenso entmutigt wurde Guo Yun, der, als er sein im Ausland
erworbenes Wissen an die Gelehrten des Qing-Hofs zum Nutzen der
Nation weitergeben wollte, als Landesverräter abgelehnt worden
war. "Landesheld" spielt auf den Historiker Sima Qian an.
Die Wendung 國士之知
guo
shi zhi zhi "Wissen des
Landeshelden" ist bis auf das letzte Schriftzeichen eine Kopie
von 國士之風
guo
shi zhi feng
"(vornehme) Art des
Landeshelden" aus Sima Qians Antwortbrief an Ren Shaoqing.
Ebenso wie Sima Qian fiel Guo Yun ungeachtet seiner Verdienste in
Ungnade.
Regelrechtes Beispiel
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平生蒙國士之知,
如今鶴翅氋氃.
Ping sheng meng guo
shi zhi zhi,
ru jin he chi meng tong.
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Das ganze Leben wurde das Wissen des Landeshelden
ignoriert, jetzt lässt der Kranich die Flügel
herabhängen.
(Yan Youling "Guo
Yun")
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Das Jiedai soll
origineller und weniger abgebraucht sein als die direkte Bezeichnung
(Forderung nach Originalität). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S.
263)
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Das Jiedai soll Mittel der Poesie
im Sinn einer "Kunst des verhohlenen Ausdrucks" sein. Die
Bezeichnung über Umwege ist oft viel schöner, als die
direkte (Forderung nach Indirektheit).
(黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 264) Anstelle von "Sterben" bietet sich
beispielsweise "Großes Gehen", "100 Jahre"
oder "1.000 Herbste" an. (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S.
264)
Regelrechtes Beispiel
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Substituendum
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Substituens
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死
si
"Sterben"
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大去
da qu
"Großes Gehen"
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百歲 bai
sui "100 Jahre"
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千秋 qian
qiu "1.000 Herbste"
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