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Xiucixue
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Die Schönheiten der Texte einer fremden Kultur. WertfragenDer Genuss an den schönen Textpassagen, denen man bei der Lektüre chinesischer Werke begegnet, läuft auch ab, wenn es bleibt im Dunkeln, wieso dieses und jenes gefällt. Bislang wo nicht unbehandelt, so doch unterbehandelt in der Fachliteratur sind die Fragen, ob die subjektiv erfassten Werte
Die regelrechten und regelwidrigen Textbeispiele sind es, welche einen Zugang zum "chinesischen Wertebereich" öffnen. Die Normen selbst sind Versuche, das Gemeinsame und Typenhaften an dem ästhetisch Wertvollen zu beschreiben. Die Beschreibungen können aber ebenso, wie sie zur Norm erhoben werden, wieder von dem künstlichen Gewand der Norm befreit und dethronisiert werden; dann stellen sie Beobachtungen und Erfahrungen des Schönen dar, welche Chinesen an chinesischen Texten vollzogen haben und welche es nachzuvollziehen gilt. Die Gebrauchsregeln der Wortzurechtlegemuster können nicht nur als Regeln, sondern zudem als Möglichkeiten betrachtet werden, einen Zugang zur ästhetischen Wertewelt der chinesischen Literatur geöffnet zu bekommen. Im folgenden werden die von Huang Qingxuan angeführten Regeln im Licht des Positionenpaars "Wertrelativismus" und "Wertabsolutismus" besprochen. Um die Frage
Von diesen Fragen aus ergeben sich die zwei theoretischen Positionen des Wertrelativismus und des Wertabsolutismus. Die folgende Behandlung ist möglichst in suspenso ("in der Schwebe") gehalten, das heißt, es wird versucht, keine der beiden Positionen vorweg zu bevorzugen. Huang Qingxuan steht mit dem Regelteil seiner Xiucixue in der Tradition der 文學批評 wenxue piping "Literaturkritik". Die folgende Darstellung kann auch in Hinblick auf die chinesische "Literaturkritik" allgemein gelesen werden. 1
Wertmeinung "Die Menschen gebrauchen in allen Sprachen gewissen Wörter, um bestimmten Gegenständen ganz eigenartige Eigenschaften zuzuschreiben. Im Deutschen sind dies z.B. folgende Wörter: nett, reizend – abscheulich, fad; großartig, prächtig, herrlich, glänzend, ausgezeichnet, vortrefflich, köstlich; edel, fein, vornehm – gemein, grob, unvornehm; hübsch, schön – scheußlich, häßlich; gut – schlecht; brav, wacker, bieder; sittlich – unsittlich; böse – erhaben, heilig." 2 Wahrhaftig angewandt sind derlei wertende Vokabeln Ausdruck einer zugrundeliegenden "Wertmeinung", einer Meinung, welche dem Gegenstand oder Werk, der Handlung oder Person, einen Wert oder Unwert zu- oder abspricht. Der Begriff der "Wertmeinung" kann als neutraler Boden fruchtbar gemacht werden: Wie immer die weltanschauliche Ansicht über Absolutheit und Relativität der Werte ausfällt, dass es Wertmeinungen gibt, darüber dürfte es keinen vernünftigen Streit geben. Den regelrechten und regelwidrigen Beispielen, welche Huang Qingxuan auswählt und anführt, liegen Wertmeinungen zugrunde, entweder übernommene oder originäre. Auf diesen Wertmeinungen baut sich die Regel auf. Was als wertvoll vermeint wird, bildet die Grundlage einer "Du-sollst"-Regel, was als wertwidrig angesehen wird, die einer "Du-sollst-nicht"-Regel.
Wertrelativismus – Wertabsolutismus Es lassen sich zwei einander bekämpfende Ansichten gegenüber der Frage Wie kann man Werte erkennen? feststellen, welche in verschiedenem Gewand immer wieder in Diskussionen über Wertfragen vorgebracht werden. Der "Wertrelativismus" einerseits und der "Wertabsolutismus" anderseits. Die Grundthese des Wertrelativismus lässt sich folgendermaßen formulieren: Es gibt keine Werte, nur subjektive Wertungen. Die Werte existieren nicht unabhängig vom Ich. Das Ich entscheidet, was angenehm, nützlich, sittlich, erotisch, schön und wissenswert ist. Die Werte sind relativ auf das Subjekt. Die Grundthese des "Wertabsolutismus": Die Werte existieren absolut, das heißt, unabhängig vom Ich, und können als unabhängige erfasst werden. Das Ich kann sie erfahren, weil es im Gespür ein werterfassendes Organ (griech. organon "Werkzeug") besitzt. Die Werte sind für jedes geistige Wesen, sofern es sie zu erfassen vermag, gleich. Im Fall des "Wertrelativismus" ändern sich mit den Wertmeinungen die Werte, da der Unterschied zwischen Wertmeinung und Wert wegfällt. Im Fall des "Wertabsolutismus" erfassen bei konvergierender Wertmeinung mehrere Personen die gleichen Werte, bei divergierender verschiedene Personen verschiedene Werte, welche alle gleichberechtigt sind, nur dass der eine das sieht, was dem anderen verborgen ist, und umgekehrt.
Wertwandel Die Wertmeinungen wandeln von Zeit zu Zeit ("geschichtlicher Wertwandel"), von Ort zu Ort ("soziokultureller Wertwandel"), ebenso von Mensch zu Mensch wie innerhalb des Lebensverlaufs eines und desselben Menschen ("personaler Wertwandel"). Angesichts dieser Phänomene scheint der Wertrelativismus Recht zu bekommen, der Wertabsolutismus hingegen in seiner Bedeutung zu verblassen. Der Wertrelativismus vermag den Grund des Wertwandels zu bestimmen: Werte wandeln sich, weil Werte nichts Anderes als Wertmeinungen sind. Die Wertmeinungen wandeln sich im Lauf der Zeit, von Gesellschaft zu Gesellschaft, ja selbst innerhalb einer Gesellschaft, Gruppe, Familie, sie wandeln sich von Lebensstadium zu Lebensstadium, und mit den Wertmeinungen wandeln sich die "Werte", da es keinen Unterschied zwischen beiden gibt. Die Wertmeinungen, welche den Regeln von Huang Qingxuan zugrundeliegen, sind in dieser Ansicht nichts Anderes als die Wertmeinungen von Huang Qingxuan selbst, Meinungen, welche man teilen kann, aber nicht muss, weil sie nichts Verbindliches haben. Die je eigene Wertmeinung ist ebenso gut wie die von Huang Qingxuan und berechtigt in gleichem Maß, sie als Grundlage von ähnlichen Regeln zu verwenden. Alles kommt nur auf die eigene Phantasie und Schöpfungskraft an. Sofern die Wertmeinungen Huang Qingxuans einer chinesischen Tradition entstammen, ist es eine Tradition von Wertmeinungen, welche zwar historisch konstatiert werden kann, aber nichts Verpflichtendes enthält. Die Frage, welche in der Einleitung berührt worden ist, nämlich ob die bei der Lektüre chinesischer Literatur durch einen westlichen Sinologen subjektiv erfassten Werte echt "chinesische Werte" sind, lässt sich in dieser Sichtweise folgendermaßen beantworten: Die Werte, welche die Leser zu erfassen vermeinen, sind ihre eigenen Werte. Alles, was sie besitzen, ist ihre Wertmeinung. Ihre Wertmeinung kann mit der Wertmeinung chinesischer Leser übereinstimmen; insofern sie übereinstimmt, kann sie zugleich eine "chinesische Wertmeinung" genannt werden. Wie immer die Meinung ausgebildet wird, eine Meinung ist so gut wie die andere, das heißt, keine ist der anderen als treffender oder adäquater vorzuziehen.
Geltung der Werte Der Wertabsolutismus erklärt: Der geschichtliche "Wertwandel" und die kulturellen Verschiedenheiten der Moralen lassen die Werte als subjektive Wertung oder bloße Konvention erscheinen. Es muss deshalb zwischen den Werten und ihrer Geltung unterschieden werden. Die Werte selbst sind unveränderbar. Was sich verändert ist nicht der Wert, sondern die Geltung des Werts. Die Wertmeinung kann wie jede Meinung zutreffend oder falsch sein, ja es kann derjenige, welcher von einem bestimmten Wert erfasst worden ist und in seinem Sinn lebt, sich über sich und seinen Lebenssinn täuschen. Der tatsächliche Wert, in dessen Sinn er lebt, unterscheidet sich von seiner Meinung über diesen Wert. Die Geltung der Werte stellt sich folgendermaßen dar. Nur wenn Werte gespürmäßig erfasst werden, haben sie Geltung. Werte, welche nicht erfasst werden, haben keine Geltung. Geltung und Erfassen von Werten sind mithin umfanggleiche Begriffe.
Werte existieren überhaupt nicht so wie reale Gegenstände: sie können nicht wie ein Tisch angegriffen werden, können nicht wie ein Apfel gerochen, geschmeckt oder gesehen werden. Es mangelt ihnen mit einem Wort die "Handgreiflichkeit". Deshalb sind Werte auch keine Eigenschaften der Dinge, wie Farbe, Oberflächenstruktur, Konsistenz, Gestalt und Größe. Wer gewöhnt ist, nur das für existierend anzusehen, was er mit Sinnen erfassen kann, für den können Werte nicht existieren. Phantasiegebilde wie das Einhorn existieren ebensowenig; dennoch sind sie irgendwie da und gerade die Phantasiegebilde, wie sie sich beispielsweise in Plan und Wunsch, Tag- und Nachttraum bilden, spielen eine eminent wichtige soziokulturelle Rolle. Wenngleich Werte nicht so wie reale Dinge handgreiflich sind, so sind so doch auch nicht so willkürlich veränderbar wie Phantasiegebilde. Einzig willkürlich veränderbar sind die Wertmeinungen. Die "Umwertung der Werte", welche Nietzsche gefordert hat, ist unmöglich. Ein häßlicher Mensch, zum Beispiel, kann nicht einfach durch eine Entscheidung als schön empfunden werden; es lassen sich höchstens durch die eingehendere Betrachtung Reize entdeckten, welche sich zuvor beim flüchtigen Hinblicken verborgen hielten. Der sittliche Wert der Gerechtigkeit, um ein anderes Beispiel zu nennen, bleibt was er ist, gleichgültig, ob ihm in ungezählten Fällen ent- oder widersprochen wird. Wenn etwas als ungerecht empfunden wird, dann kann man sich einzig über den wahren Sachverhalt hinwegtäuschen, um sich zu beruhigen, nicht aber den Unwert der Ungerechtigkeit in den Wert der Gerechtigkeit verwandeln. Werte halten mitten inne zwischen Ding und Phantasiegebilde: im Gegensatz zu den Dingen sind sie nicht "handgreiflich" und im Gegensatz zu den Phantasiegebilden sind sie nicht willkürlich veränderbar. Mit anderen Worten: Werte sind irgendwie da, aber ihr Dasein ist ein anderes als das von realen Dingen und irrealen Phantasiegebilden. Wieso haben diese Werte Geltung und jene nicht? Darauf lautet die Antwort von der Warte des Wertabsolutismus: Die reale Situation bestimmt, welche Werte bedeutsam sind. In jeder Art von Sachlage im Leben ist ein anderes Verhalten wertvoll: in der Gefahr der Mut, in der Erregung die Beherrschtheit, im Umgang der Takt, in der Konkurrenz das faire Verhalten. 3 Andere Zeiten, andere Kulturen, andere Gesellschaftsgruppen stehen ebenso wie der Mensch in seinen verschiedenen Lebensstadien in unterschiedlichen Situationen und je nach Situation werden andere Werte aktuell. Aktuell heißt: dass ihnen entsprochen werden sollte, nicht aber, dass ihnen tatsächlich entsprochen wird. Nicht jeder Mensch erfasst jene Werte, welche in der Situation aktuell sind, und jeder Mensch hat die Freiheit, den von ihm gefühlten Werten zuwider zu handeln. Auf diese Art erklärt sich in der Sichtweise des Wertabsolutismus der Wertwandel. In der Sichtweise des Wertabsolutismus sind die ästhetischen Werte, welche für Huang Qingxuan normgebend sind, nicht seine willkürlichen subjektiven Phantasievorstellungen, sondern dem werterfassenden Akt gegenüberliegende daseiende Gebilde, welche so wie sie von ihm erfasst worden sind, von anderen erfasst werden können. Wenn die westlichen Leser im Sinn von Huang Qingxuan empfindeen, so erfassen sie dieselben Werte. Gefallen verschiedenen Rezipienten andere Züge an derselben Textstelle, so erfassen sie unterschiedliche Werte, welche alle da sind, welche aber nicht von allen Rezipienten erfasst werden müssen, zumal nicht alle in gleicher Weise für sie aufnahmefähig und empfänglich sein müssen. Zudem kann die geäußerte Wertmeinung sich über den tatsächlich erfassten Wert täuschen. In jedem Fall bildet der ästhetische Wert, welcher von einem Rezipienten tatsächlich erfasst worden ist, eine Aufgabe für den anderen Rezipienten, da jener entdeckt hat, was diesem möglicherweise noch verschlossen ist. Es ist nicht gleichgültig, wie die Wertmeinung ausgebildet wird, das heißt, die eine Wertmeinung kann zutreffender und adäquater als eine andere sein. Die den Regel von Huang Qingxuan zugrundeliegenden Wertmeinungen werden somit zu einer Aufgabe für die westlichen Leser, die von Huang Qingxuan erfassten ästhetischen Werterfahrungen nachzuvollziehen und den ästhetischen Wertgehalt der angeführten Textpassagen zu erkennen. Die eigenen ästhetischen Erfahrungen sind ebenso berechtigt wie die von Huang Qingxuan. Die westliche Leserschaft genießt einzig den Vorteil, dass sie die fremden ästhetischen Erfahrungen am Text als Fingerzeige für die eigenen nützen kann.
Das adäquate Wertschätzen des literarischen Werks Die bisherige argumentationstheoretische Auseinandersetzung hat gezeigt: Einzig in der Sichtweise des Wertabsolutismus kann es ein adäquates Wertschätzen des literarischen Werks geben. Dies gilt es festzuhalten: Für den Wertrelativismus ist jede Wertmeinung so gut wie jede andere und keine der anderen vorzuziehen. Es fragt sich, wie in der Sichtweise des Wertabsolutismus das adäquate Wertschätzen des Kunstwerks vor sich geht. Zuvor muss aber die Frage behandelt werden, wie in der Sichtweise des Wertabsolutismus Werte allgemein erkannt werden können. Die Klärung dieser Frage ist Voraussetzung für die Beantwortung der Frage nach dem adäquaten Wertschätzen des ästhetischen Wertgehalts literarischer Werke. Es hat sich methodisch bewährt, die ästhetischen Werte von den sittlichen aus zu behandeln. Der Wert der Gerechtigkeit beispielsweise, welcher bereits erwähnt worden ist, ist ein sittlicher Wert. Auch im Folgenden wird von den sittlichen zu den ästhetischen Werten fortgegangen. Wenn die Werte als unabhängig vom Ich erfasst werden, dann fragt es sich, wie sie dem Ich gegeben sind, erscheinen, und wie sie erfasst werden. Die Werte werden, wie bereits angedeutet, nicht über die körperlichen Sinne erfahren. Sie werden aber ebensowenig über den Intellekt erfasst. Obschon die sinnliche Erfahrung des Gegenstands Voraussetzung für das Werterfassen sein mag, sind die Werte keine dinglichen Eigenschaften. In der Wissenschaft ist die Forderung üblich geworden, wertende Aussagen zu vermeiden. Das hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass, geht es um die Eigenschaften eines Gegenstands, der Wertgehalt außer Acht bleiben muss. Der wertvolle Gegenstand ist Wertträger. Er erfüllt durch seine Eigenschaften den Wert, das heißt, seine Eigenschaften stimmen mit den vom Wert geforderten Eigenschaften überein. Zwischen Wert und Wertträger herrscht ein Übereinstimmungsverhältnis. Dieses Übereinstimmungsverhältnis (Konvergenz) macht das Wertvollsein des Gegenstands aus. Wäre der Wert Eigenschaft des Gegenstands, dann müsste er mit dem Vergehen und Verschwinden des Gegenstands ebenfalls vergehen und verschwinden. Der Wert der Gerechtigkeit verschwindet aber nicht dadurch, dass die gerechte Entscheidung gefällt, ausgeführt und nach und nach Vergangenheit wird. Stets werden neue Situation aktuell, welche eine gerechte Entscheidung verlangen. Das Gegenstück des Nicht-Übereinstimmungsverhältnis (Divergenz) bewirkt das Nicht-Wertvollsein, die Wertlosigkeit eines Gegenstands. Gerade an der Nicht-Übereinstimmung lässt sich die Eigenständigkeit der Werte gut erkennen, lässt sich einsehen, dass Werte keine Charakteristika von Ding, Person, Sachverhalt oder Situation sein können. Die ethischen Werte werden am ehesten dort fühlbar, wo ihnen widersprochen wird. Obschon jemand beispielsweise zu Unrecht verurteilt wird, bleibt der Wert der Gerechtigkeit bestehen. Um die Nicht-Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit festzustellen, muss der Wert unabhängig von der Handlung eingesehen werden können. Die Ungerechtigkeit besteht in der Nicht-Übereinstimmung mit dem Wert der Gerechtigkeit da, wo die Übereinstimmung bestehen sollte. Der Wert wird nicht aus der realen Handlung herausgehoben, da er gar nicht in ihr realisiert ist. Ebenso bleibt die gerichtliche Entscheidung ungerecht, auch wenn niemand das Unrecht einsieht. Ich wiederhole: Werte sind nicht sinnlich gegeben, das heißt, sie können nicht gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet werden. Aber ebensowenig erkennt der Verstand, das logische Begreifen oder Schließen die Werte. Der Intellekt kann höchstens die Werterkenntnis vorbereiten oder die Werte nachträglich untersuchen. Kalendersprüche von der Art "Bei allem, was du tust, denke an das, was gerecht ist", zum Beispiel, bewirken keine Werterkenntnis. Die Leser werden nicht von dem Wert der Gerechtigkeit erfasst, sie können sich nicht für die anempfohlene Sache begeistern. Der Rat bleibt unverbindlich. Wenn es weder Sinnes- noch Verstandeserkenntnis sind, weder Anschauung noch Begriff, welche zu den Werten führen, was bleibt dann übrig? Das Hinspüren. Das Hinspüren ist ein Akt, welcher zwischen Gefühl und Verstand steht. Um reines Gefühl zu sein, ist er zu intellektuell, um Intellekt zu sein, zu emotional. Weder ist das Hinspüren freudig oder traurig, noch kann es Gegenstände analysieren. Dennoch vermag es gefühlsmäßig Gegebenheiten zu erfassen. Mit dem Hinspüren vollzieht sich Verneinen, Ablehnen, Missfallen oder Bejahen, Zustimmen, Gefallen, jene Akte, welche die Unwerte oder Werte anzeigen. Leicht lässt sich das an der Begeisterung beobachten: überall, wo sich jemand für ein Ziel echt begeistert, da liegt ein Wert zugrunde und geht historisch ein werterfassender Akt des Sichöffnens und Hinspürens voraus oder zeitgleich mit. Da die Werte nichts Äußerliches sind, nicht Merkmal des Gegenstands, so können sie nur etwas im Inneren der werterfassenden Person sein. Die Werte sind gleichsam nur in Brust und Kopf, da liegen sie aber dem Wertschätzen als eigenständige Gebilde gegenüber, welche genauer oder ungenauer erfasst werden können, und ein Eigenleben führen. Sie können aber nicht direkt erfasst werden, sondern nur über die Umweg eines Gegenstands, den Wertträger, welcher wertvoll oder "wertleer" ist, das heißt, entweder mit den Werten übereinstimmt oder nicht. Obschon die Werte nicht im Gegenstand sind, sind sie nur durch den Gegenstand. Das Hinspüren greift gleichsam innerlich zu dem Gegenstand hin und über den Gegenstand hinaus und ergreift den Wert über dem Gegenstand im Innern der Person, ergreift den Wert, der in umgekehrter Richtung in der Begeisterung der Person für die werthaltige Sache die Person erfasst:
Die ganze Aktion des Erfassens beziehungsweise des Erfasstwerdens von den Werten bleibt in der Sphäre des Subjekts, weshalb das Gespür und das begleitende "Schmecken" zurecht als "rein subjektiv" bezeichnet werden. Das entspricht der Gegebenheits-, der Erscheinungsweise der Werte. Die Subjektivität des Werterfassens ist es, welche dem Wertrelativismus Recht gibt, wenn er behauptet, Werte sind subjektiv. Nur muss man die Art der Subjektivität genauer erläutern: Werte können nur von einem Subjekt erfasst werden und sind nichts am Gegenstand, nichts am Objekt, also nichts Objektives. Dennoch können sie nur über ein Objekt erfasst werden; zudem sind sie innerhalb der Sphäre des Subjekts eigenständig, was wiederum dem Wertabsolutismus Recht gibt. Wenn man sich für Ziele begeistern kann, Ziele, hinter welchen ein Wert steht, so muss es möglich sein, Werte unabhängig von ihrer Verwirklichung zu erfassen, denn darin gerade besteht die Zielhaftigkeit, dass die Realisation noch aussteht. Obgleich Werte unabhängig von der Wirklichkeit erfassbar sind, ein Sachverhalt, welcher in dem Beispiel von dem ungerechten Gerichtsurteil, das den Wert der Gerechtigkeit erst erkennbar macht, bereits erwähnt worden ist, ist ihr Erfassen stets an einen Wertträger (Unwertträger) gebunden, weil die Werte nicht direkt erfasst werden können. In der Zielsetzung spielt die Rolle des Wertträgers (Unwertträgers) die Phantasievorstellung. Das Ergriffenwerden und die Begeisterung für eine Sache geht über die Vorstellung, welche sich ausmalt "wie es sein würde, wenn ..." Das Werterfassen kann also einerseits über Wertträger (Unwertträger) verlaufen, welche äußerlich und real, anderseits über solche, welche innerlich und irreal sind. Was von den Werten allgemein am Beispiel der ethischen gesagt worden ist, gilt auch für die ästhetischen. Bei den ästhetischen Werten ist erstens wieder zwischen Wert und Geltung zu unterscheiden: Es gibt keinen "Wandel der ästhetischen Werte", sondern nur einen "Geltungswandel der ästhetischen Werte"; zweitens ist der ästhetische Wert keine Eigenschaft der Textes; drittens kann der Wertgehalt weder sinnlich noch intellektuell erfasst werden; viertens können ästhetische Werte nur über einen Akt des Hinspürens erfasst werden; fünftens stimmt ein ästhetisch wertvoller Text mit ästhetisch Werten überein, ein wertloser hingegen nicht; sechstens sind die ästhetischen Werte unabhängig vom realen Wertträger und bleiben selbst dann bestehen, wenn ihnen die Wirklichkeit widerspricht.
(1) Der Unterschied zwischen Wert und Geltung im ästhetischen Bereich zeigt sich etwa daran, dass viele der großen Literaturwerke von den Zeitgenossen verkannt und erst von den Nachgeborenen geschätzt werden. Das Werk war wertvoll auch zu jener Zeit, als es niemanden gefiel. Dem Rezipienten kann der Wertgehalt eines Textes verschlossen bleiben. Oft sieht man erst nach Jahren, was man falsch gemacht hat. Die Werte waren auch zu jener Zeit vorhanden, als man an ihnen vorbeigesehen hat. Was sich verändert hat, ist die Geltung des ästhetischen Werts und nicht der ästhetische Wert selbst. Selbst wenn man nichts bei der Lektüre eines chinesischen Textes empfindet, selbst wenn er einen völlig gleichgültig lässt, muss es noch nicht bedeuten, dass er wertlos ist. Unter den von Huang Qingxuan aufgestellten Regeln werden Literaturbeispiele aus der ganzen chinesischen Literaturgeschichte von Konfuzius, Sima Qian über Du Fu bis zu Xu Zhimo als vorbildlich angeführt. Was ist von den Beurteilungen zu halten, welche das am längsten Überlieferte und das Moderne gleich mutig wertschätzt? Ist es möglich, einen chinesischen Text von vor tausend Jahren in seinem Wertgehalt angemessen zu beurteilen? Da sich nur die Geltung der Werte verändert, aber nicht die Werte selber, können im Prinzip dieselben ästhetischen Werte trotz der zeitlichen Distanz erfasst werden. Es kann sein, dass in alter Zeit den Kritikern gewisse Werte verborgen geblieben sind, welche heute erkannt werden, ebenso wie umgekehrt das heutige Wertgefühl für gewisse jener Werte stumpf sein kann, welche für die Menschen damals Geltung besaßen. (2) Weiters wurde gesagt, dass die Werte zwar durch die wertvollen Gegenstände da sind, nicht aber als ihre "handgreiflichen" Eigenschaften. Dies gilt auch für die ästhetischen Werte des literarischen Textes. Die ästhetischen Werte sind keine Eigenschaften des Textes. Sie werden zwar nur über die Lektüre des Textes erfasst, aber nicht als dessen Bestandteile. Deshalb ist es genau genommen unmöglich, den Wertgehalt eines Textes zu analysieren ("zergliedern"). (3) Ein Text muss zwar gehört oder gelesen werden, die ästhetischen Werte selbst lassen sich aber nicht hören oder lesen, sind nichts Hörbares oder Lesbares. Sie sind es auch nicht gleichsam nur um eine Schicht weiter ins Innere gerückt, im Bereich der Vorstellungen und Phantasiebilder, welche nach dem Muster der realen Welt gebildet sind. Diese können nur als Wertträger, aber nicht als Werte selbst fungieren. Aber auch der Verstand erkennt die ästhetischen Werte nicht. Wenn man beispielsweise über einen Syllogismus wie "Immer wenn ein Text ein in sich geschlossenes organisches Ganzes ist, dann ist er schön. Dieser Text hier ist ein in sich geschlossener organischer Ganzes, folglich ist er schön" auf den Wertgehalt eines Textes zu schließen versucht, so hat man noch längst nicht seinen Wert erfasst. Dies gilt insbesondere für die von Huang Qingxuan angeführten regelrechten Literaturbeispiele. Selbst wenn man die Regeln an Text-Beispielen erfüllt sieht, so muss es noch nicht bedeuten, dass man den zugrundeliegenden Wertgehalt tatsächlich erfasst hat. Die verstandesmäßigen Regeln können ein Werterfassen nur vorbereiten, gleichsam Richtungsanweisungen geben, wo man zu suchen hat, nicht aber das Werterfassen selbst vollziehen. (4) Die Einsichtnahme in den ästhetischen Wertgehalt muss den Weg über das Hinspüren gehen. Die ästhetischen Werte werden in stellungnehmenden Akten von der Form "das gefällt mir" angezeigt. Nur wenn der Rezipient unter Anleitung von Huang Qingxuans Regeln an den aufgewiesenen Textpassagen wahrhaftes Gefallen empfindet, werden die ästhetischen Werte erfasst. An dieser Stelle gilt es, den folgenden, bisher unerwähnt gebliebenen Sachverhalt, zu erläutern: Das Werterfassen kann sich in der Sichtweise des Wertabsolutismus weder täuschen noch irren. Der Rezipient kann sich nur über den Gegenstand täuschen oder irren, nicht aber über den empfundenen Wert. Das heißt, selbst wenn Bewusstsein und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, so hat der empfundene Wert doch seine Berechtigung: Es ist dann nicht der Wert der Wirklichkeit, sondern der Wert der Vorstellung, welche fälschlich für die Wirklichkeit gehalten wird. Es ist bereits erwähnt worden, dass beispielsweise in der Zielsetzung reine Phantasievorstellungen als Wertträger fungieren können. Ebenso ist es bei Täuschung und Irrtum: Es ist nicht die innere wertende Stellungnahme, welche sich täuscht und irrt, sondern die Sinnes- oder Verstandestätigkeit, welche fehlhandelt. Niemand kann sich für etwas begeistern, was in der gegebenen Lage nicht begeisternd "ist". Er kann sich zwar im Faktischen irren [...], aber nicht im Bewerten des Gemeinten. [...] Es ist unmöglich, dass etwas als wertvoll einleuchtet, was nicht wenigstens bei gegebener Auffassung der Tatsachen auch wertvoll ist." 4 Das ist nur konsequent, bedenkt man, dass Werte nur innerhalb des Subjekts gegeben sind. Sie erscheinen als Erzeugnis des Subjekts und werden doch gleichsam von anderswo empfangen. Das bedeutet, dass objektive Bedingungen erfüllt sein müssen, will man allgemein ein Kunstwerk angemessen auf seinen ästhetischen Wert hin schätzen. Das Kunstwerk muss als Grundbedingung der Betrachtung in optimaler Weise gegeben sein. Das lässt sich anhand einfacher Beispiele einsehen. Eine schlechtbeleuchtete Malerei oder eine verstellte Sicht führen zu einer Beeinträchtigung der adäquaten Auffassung. Eine gekonnte Deklamation kann dem Gedicht einen Sinn entlocken, der dem kursorischen Lesen verborgen geblieben ist. Die Matthäus-Passion im Konzertsaal beeindruckt ganz anders als auf Compact Disc. Das bedeutet im Besonderen, dass die Lektüre chinesischer Texte raffiniert, verfeinert werden muss, will man ihren Wertgehalt angemessen erfassen. Sofern eine Stelle begeistert, wird stets ein Wert erfasst. Es fragt sich dann nur, ob es der eigentümliche Wert des vorliegenden Textes ist. Wer chinesische Gedichte beispielsweise nur aus deutschen Übersetzungen kennt, der erfreut sich an einem deutschen Text, welcher zwar seine Entstehung dem chinesischen verdankt, dessen ästhetische Werte aber allein dem Deutschen anhängen. Ein klassischer chinesischer Text in modernem Chinesisch gelesen, mag schön klingen. Die Schönheit von Klang und Rhythmus hängt aber allein dem modernen an und nicht dem klassischen. Umgekehrt weiß niemand einen alten chinesischen Text exakt mit der Aussprache zu lesen, in welcher er verfasst worden ist, so dass ihm die damaligen tonalen Schönheiten verborgen bleiben müssen. lässt sich das Gesprochene auch teilweise rekonstruieren, es bleibt ein Konstrukt. So wie die Existenz des sonnenfernsten Pluto erst als gesichert galt, nachdem die Beobachtung die mathematischen Berechnungen seiner Lage aus den Störungen der Bahnen von Uranus und Neptun bestätigt hatte, so wären die Laute erst gesichert, könnte man sie auch in ihrer ursprünglichen Form hören, selbst wenn das Konstrukt dem Original aufs Haar entspräche. Das Hauptproblem im adäquaten Wertschätzen alter Texte liegt daran, dass die Texte nicht in optimaler Weise überliefert sind, das heißt, meistens wird heute und früher nicht ein und derselbe Text gelesen. Der Textkörper ist nicht in gleicher Weise überliefert. Im Lauf der Zeit wurden Schriftzeichen gestrichen, hinzugefügt oder ersetzt, manchmal ganze Sätze oder Passagen umgeordnet. In den alten Texten fehlt die Interpunktion. Je nach Interpunktion aber ergibt sich ein anderer Sinn. Unverbindliche grammatikalische Wortklassenverhältnisse erschweren zusätzlich das Verständnis. Wo der Text nur in Bruchstücken vorhanden ist, da fehlen ontisch die Bedingungen für das Tragen der ästhetischen Werte. Wie die ganze Skulptur in ihrer Pracht aber vom Torso aus erahnt werden kann, so mögen auch die alten Texte ein Stück über das Gegebene hinaus in ihrer Schönheit erahnbar sein. Selbst wenn der Textkörper sich vollständig erhalten hat, so haben sich doch die Wortbedeutungen gewandelt. Ihre Rekonstruktion über Lexika und parallele Textstellen gewährt keine Sicherheit. 5 Auch für die beschriebenen historischen Sachverhalte fehlt heute oft das Verständnis. Das Verständnis des sachlichen Zusammenhangs aber bedingt das Verständnis des Textes wie umgekehrt das Beschriebene erst durch die Textlektüre verständlich wird. Ohne eine vollständige Aufzählung der Verstehensschwierigkeiten bei Texten im klassischen Chinesisch geben zu wollen, so kann doch gesagt werden, dass der heutige westliche Sinologe sich nicht selten schon zufrieden gibt, wenn er durch das "Ausprobieren von Bedeutungen" überhaupt einen Sinn zustande bringt. Allgemein gilt, dass die geringere oder größere Adäquation des Textverständnisses das Zurücktreten und das Hervortreten der ästhetischen Werte mitbedingt ("Schwanken des Bedeutungsreliefs" versus "Schwanken des Wertreliefs"). Die Xiucixue vermag in diesem Punkt zu helfen: Sie kann das Textverständnis fördern und mit dem adäquateren Textverständnis eine adäquatere Werterkenntnis vorbereiten. 6 (5) Der chinesische Text ist dann wertvoll, wenn er mit ästhetischen Werten übereinstimmt, sie gleichsam erfüllt. Die Regeln von Huang Qingxuan bilden Versuche, die ästhetischen Werte, mit welchen die Texte übereinstimmen sollen, zu begreifen und zu benennen; die Übereinstimmung zu bewirken, ist der Zweck der Regeln. Die Regeln selbst drücken nicht so sehr aus, was schön am Text ist. Sie sagen vielmehr: "X ist schön, weil Y der Fall. Willst du X, dann mache Y". Der Ausdruck "X ist schön" bildet nicht nur einen Verweis auf die angeführten Textbeispiele, durch welche die Regeln erfüllt werden, sondern ist zudem Ausdruck eines werterfassenden Akts. Es gilt, sich von diesem Verweis leiten zu lassen. Der Verweis auf die schönen Züge der angeführten Textbeispiele ist eine Chance für den westlichen Sinologen, chinesische Erfahrungen am Text nachzuvollziehen. Die Furcht, im Werterfassen daneben zu greifen, ist völlig unbegründet. Sofern der Text adäquat erfasst wird, sind die erfassten Werte Werte des Textes. Die Aufmerksamkeit muss vorrangig der adäquaten Texterfassung gelten. Jeder Chinese steht in der gleichen Situation: auch für ihn gilt es, den Text adäquat zu erfassen. Die ästhetischen Erfahrungen, welche der westliche Sinologe am adäquat erfassten Text macht, haben die gleiche Berechtigung. Es handelt sich nicht um westliche Werte, welche er erfasst. Ebenso wie es keinen "chinesischen Wert der Gerechtigkeit" gibt, gibt es keinen "westlichen Wert der Gerechtigkeit". Es gibt nur den Wert der Gerechtigkeit, gleichgültig, ob ihm in China oder im Westen ent- oder widersprochen wird. Ebenso sind es keine "chinesischen ästhetischen Werte", welche es zu erfassen gilt, sondern einfach ästhetische Werte des chinesischen Textes. Werte sind in der Sichtweise des Wertabsolutismus diesseits aller Kulturen. Nur in der Sichtweise des Wertrelativismus bilden sie Wertmeinungen der jeweiligen Kultur. (6) Dass die ästhetischen Werte auch bestehen bleiben, wenn ihnen die Wirklichkeit widerspricht, zeigt sich deutlich am künstlerischen Schaffensprozess. Die Werte gehen dem Schaffen als Leitmotive voraus. Sie bleiben bestehen, selbst wenn der Künstler fühlt, dass das fertige Kunstwerk mit ihnen nicht ganz übereinstimmt. Das Umarbeiten und die notorische Unzufriedenheit haben darin einen Grund. Das Wertfühlen des Unfertigen ist nicht auf den Künstler beschränkt. Der bloße Betrachter hat die Werte schon erfasst, wenn er ahnt, wo der Künstler hinaus wollte. Jedes Kunstwerk hat seinen Maßstab in sich. Das gilt auch für das literarische Kunstwerk im Chinesischen. Auch dieses hat seinen ästhetischen Maßstab in sich und kann ihm mehr oder weniger entsprechen. Die ästhetischen Werte bleiben bestehen, selbst wenn sie durch den Text nicht erfüllt werden. Die regelwidrigen Textbeispiele, welche Huang Qingxuan anführt, können als Ausdruck für die Nichterfüllung des ästhetischen Maßstabes gelesen werden, welchen sie in sich bergen. Der Maßstab freilich muss zuerst aus dem Text selbst erkannt werden, erst danach kann beurteilt werden, ob der Maßstab mit der Regel übereinstimmt. Abschließend möchte ich im Gleichnis des Malens den Akt des Wertschätzens des literarischen Textes betrachten. Nachdem der Maler vor der Malerei stehend Linie und Flächen gesetzt hat, tritt er zurück, um sie und ihren Beitrag für den Gesamtaufbau zu beurteilen. Nach einigem Hin- und Herwägen tritt er wieder vors Bild, um dem Gesamteindruck gemäß die Details zu betrachten, nur um gleich wieder zurückzutreten und die Details im Ganzen zu sehen. Seine Wertschätzung geht vom oberflächlichen Erleben des gesamten Kunstwerks aus, tritt dann vor die einzelnen Momenten hin, nur um sich später mit geschärftem Blick wieder dem Erleben des Ganzen zuzuwenden. Analog lassen sich drei Ebenen im Verlauf der Wertschätzung eines literarischen Textes unterscheiden. 7 Erstens, die Ebene des ungefähren Erlebens. Die Beurteilung hebt an mit einem "der Text gefällt mir", ohne dass genau gesagt werden kann, woran es eigentlich liegt. Die einzelnen Werte und der Wert des Ganzen werden nur undeutlich erlebt. Zweitens, die Ebene des Aufspürens. In Stellungnahmen wie "Ich kenne keinen anderen Text, wo dieser komplizierte Sachverhalt so anschaulich und dicht dargestellt wird" werden die Besonderheiten des Textes aufgespürt. Drittens, die Ebene des vertieften Erlebens. Durch das Aufspüren der Besonderheiten wird das Erleben des gesamten Kunstwerks vertieft. Die alten und modernen chinesischen Texte haben, wie bereits erwähnt, in der Sichtweise der Wertabsolutismus ihren Wertmaßstab in sich. Im Gang durch die drei Ebenen, welcher sich im Prinzip endlos wiederholen kann, wird der Maßstab in der Annäherung (nie vollständig) erfasst. Dabei kommt einem die Xiucixue von Huang Qingxuan auf der Ebene des Aufspürens der Besonderheiten jener Texte, welche nur bruchstückhaft zitiert werden, helfend entgegen. In dem skizzenhaften Aufzeigen ihrer punktuellen Vorzüge, das als Grundlage für das Aufstellen der Normen dient, werden Wege zum vertieften Verständnis des ganzen Textes freigelegt, welcher als ganzer freilich selbständig gelesen werden muss. Das detaillierte Wertschätzen darf, wie gesagt, nicht nur intellektuell sein. Erst wenn das Gespür und das Gefallen als wertnehmende Akte fungieren, können die Werte erfasst werden. Im Erfassen der Werte eines Kunstwerks macht der Rezipient die seltsame Erfahrung, dass er in seinem Innersten berührt, er als dieses Ich angesprochen wird. Das heißt, dass im Erfassen der ästhetischen Werte eines fremdsprachigen Textes die Fremdsprache das Fremde verliert und zu einem Vertrauten wird. Was zuvor noch ein Entferntes, in dem das Ich nicht wirklich Zuhause war, wird zum Allernächsten. Im Erfassen der Schönheit oder besser im Erfasstwerden von der Schönheit, wird das Fremde als das Eigenste erlebt, und der Abstand der Kulturen hebt sich auf. 1 Vgl. GUO SHUYAN, 1985: 郭淑燕 Guo Shuyan:中國文學批評新論 Zhongguo wenxue piping xinlun "Neue Darstellung der chinesischen Literaturkritik" (Taibei, Yuanshan shuju). [Die Xiucixue steht mit ihrem Normenteil in der Tradition der "Literaturkritik".] 2 PFÄNDER, 1973: Pfänder, A.: Ethik in kurzer Darstellung. Ethische Wertlehre und ethische Sollenslehre (München, Fink), aus dem Nachlass hg. v. P. Schwankl. S. 44. 3 HARTMANN, 1958: Hartmann, N.: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, in: Kleiner Schriften III (Berlin, de Gruyter), S. 329. 4 HARTMANN, 1958: Hartmann, N.: Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart, in: Kleiner Schriften III (Berlin, de Gruyter), S. 330. 5 Die Übersetzung und Bearbeitung eines etymologische Wörterbuchs, wie beispielsweise das von 王鳳陽Wang Fengyang: 古辭辨 Gu ci bian "Unterscheidung alter Worte" (Changchun, Jilin wenshi 1993), das nicht nur die chinesischen Schriftzeichen, sondern die Wörter in ihrem Bedeutungswandel anhand von Textstellen verdeutlicht, wäre für die Übersetzung sowohl von Texten im klassischen Chinesisch als auch zum Verständnis der Konnotationsfelder der modernen chinesischen Wörter sehr hilfreich. 6 Zu den Möglichkeiten ein Kunstwerk in seinem Wertgehalt zu verfehlen vgl. GEIGER 136 ff./513 ff: "Dilettantismus im Erschaffen eines Kunstwerks" versus "Dilettantismus im Erfassen eines Kunstwerks". Vgl. auch HARTMANN, 1953: Hartmann, N.: Ästhetik (Berlin, de Gruyter), S. 411 f. 7 Vgl. GEIGER, 1976: Geiger, M.: Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik (München, Fink), hg. v. K. Berger u.a., S. 479 ff. [Behandelt ausführlich und sehr erhellend den Unterschied von "Wertästhetik" und (rhetorischer) "Wirkästhetik". ] |
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