20. Hugao 呼告 "Anrufen"
Das "Hugao" ist das Anrufen von Dingen, Pflanzen, Tieren, menschlichen oder übermenschlichen Wesen. Das Zurechtlegen der Worte folgt einer bestimmten Ordnung: es wird meist zuerst der Namen der angerufenen Personen genannt und erst dann folgt die Mitteilung.
Beispiele
Klassisches Chinesisch
汛彼柏舟, 在彼中河.
髡此兩髦, 實維我儀.
之死矢靡它.
母也天只!
不諒人只!
Xun bi bai zhou, zai bi zhong he.
Dan ci liang mao, shi wei wo yi.
Zhi si shi mi ta.
Mu ye tian zhi!
Bu liang ren zhi!
Es treibt herum, das Boot aus Zypressenholz, / dort mitten im Fluss. / Mit den zwei Haarbüscheln, die herunterfielen, /
ja, er durfte nur für mich sein! / Ich schwöre, bis zu meinem Tod werde ich keinen Anderen haben. / O Mutter, o Himmel! / Warum glaubt ihr mir das nicht?!
Quelle: "Buch der Lieder",
siehe Xiucixue
S. 258
Modernes Chinesisch
女朗, 單身的女朗, 你為什麼留戀這黃昏的
海邊? -- 女朗, 回家吧, 女朗!
Nülang, danshen de nülang, ni weishenme liulian zhe huanghun de
haibian? - Nülang, huijia ba, nülang!
Mädchen, alleines Mädchen, warum hängst du an diesem gelblich
dämmernden Strand? - Mädchen, geh heim, Mädchen!
Quelle: Xu Zhimo "Meer-Reim",
siehe Xiucixue
S. 258 f.
Erinnert an ...
- "Apostrophe"
- "Lyrische Apostrophe"
Ausführliche Erklärung
Der folgende Text ist gleich dem im Buch Xiucixue S. 257 ff.
A. Das Wortzurechtlegemuster
1. Hinführung
Georg Trakls
Gedicht Nachtergebung
beginnt mit der Zeile Mönchin!
schließ mich in dein Dunkel.
Es ist die Nacht, welche hier angerufen wird. In der ähnlichen
Weise besteht das Hugao aus der Nennung einer Person und einem
anschließenden offenen oder mehr hintergründigen Appell.
Alles, was auf diese Weise angerufen wird, muss als eine Person
vorgestellt sein, da es als eine Person angerufen wird, welche hören,
verstehen, einsehen, entscheiden und handeln kann (Möglichkeit
der Personifikation).
2. Das Wort "hugao"
吸 xi
"einatmen" und 呼
hu
"ausatmen" bilden ein Antonympaar. Im Wort "hugao"
ist 呼
hu
jedoch im Sinn von 呼喚 huhuan
"rufen" gebraucht ("kräftiges Ausatmen" plus
"Stimmgebung"). 告
gao
ist eine Weise des hierarchischen Mitteilens "von oben nach
unten".
Im Wort "hugao" bedeutet 告
gao
wie 告訴
gaosu:
"sagen", wobei
das Herr-Diener-Verhältnis nur noch entfernt als konnotativer
Oberton mitschwingt. Da sich das Rufen auf eine bestimmte Person
richtet, welcher etwas mitgeteilt werden soll, bietet sich im
Deutschen das Wort "(jemanden) anrufen" als Übersetzung
von "hugao" an. Das
Angerufene ist stets eine Person. Nicht-personale Existentien werden
durch das Anrufen personalisiert vorgestellt.
3. Begriffsbestimmung
Das Hugao ist das Anrufen von Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen
oder von nicht-menschlichen personalen Wesen (z.B. Geister, Götter).
Das Anrufen hat Anteil sowohl am Ausruf wie am Aufruf.
Als Ausruf ist es Interjektion, expressiver Ausdruck eigener
Gemütsbewegungen. Als Aufruf ist es Appell, Stimulation
des Du zu gewünschten Handlungen, zumindest zum Merken auf eine
folgende Mitteilung (Intentionslenkung).
4. Beispiele
In den folgenden zwei Beispielen ist das Anrufen Ausdruck des
Wünschens, das in einen Appell mündet. Im ersten ist es der
Wunsch nach Glaubensschenkung, welcher in der Aufforderung nach
Glaubensschenkung sich äußert, im zweiten ist es der
Wunsch vielleicht nicht vordergründig nach Heimkehr, sondern
nach ... Die tiefergründigen Motive dieses Aufforderns könnten
nur in einer umfassenderen und eingehenderen Text-Interpretation zu
Tage gefördert werden.
Klassisches Chinesisch
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汛彼柏舟, 在彼中河.
髧此兩髦, 實維我儀.
之死矢靡它.
母也天只!
不諒人只!
Xun bi bai zhou, zai bi zhong he.
Dan ci liang mao, shi wei wo yi.
Zhi si shi mi ta.
Mu ye tian zhi!
Bu liang ren zhi!
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Es treibt herum, das Boot aus Zypressenholz, / dort mitten im
Fluss. / Mit den zwei Haarbüscheln, die herunterfielen, /
ja, er durfte nur für mich sein! /
Ich schwöre, bis zu meinem Tod werde ich keinen Anderen
haben. / O Mutter, o Himmel! / Warum glaubt ihr mir das
nicht?!
("Buch der
Lieder")
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Modernes Chinesisch
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女朗,
單身的女朗,
你
為什麼留戀這黃昏的
海邊?
– 女朗,
回家吧,
女朗!
Nülang, danshen de
nülang, ni weishenme liulian zhe huanghun de haibian?
Nülang, huijia ba, nülang!
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Mädchen, alleines Mädchen, warum hängst du an
diesem gelblich dämmernden Strand? – Mädchen,
geh heim, Mädchen!
(Xu Zhimo
"Meer-Reim")
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5. Gefühl, Gegenwart, Person
Das Hugao ist mit drei anderen Wortzurechtlegemustern, dem Gantan,
Shixian und Zhuanhua, verwandt. Es fungiert teils als
Gefühlsausdruck, teils als Mittel der Vergegenwärtigung,
teils als Möglichkeit zur Personalisierung. Im Folgenden werden
die drei Funktionen kurz erörtert.
Es gibt kein schlichtes, sachliches, gefühlskaltes Rufen,
stets mischt sich eine Emotion mit hinein, weshalb das Hugao häufig
zugleich als Gantan fungiert. Das Hugao bildet mitunter den
Kulminationspunkt des Gefühlausdrucks, wie im ersten
Textbeispiel.
Im Gegensatz zum allseitig ausstrahlenden Schreien zielt das
Anrufen in eine bestimmte Richtung, nämlich auf den Angerufenen.
Der Angerufene soll seine Aufmerksamkeit auf den Anrufer richten, um
seine Mitteilung aufzunehmen. Das Anrufen beginnt daher oft mit der
Nennung des Namens des Angerufenen. Der Angerufene steht nicht in
nächster Nähe, sondern entfernt, weshalb der Sprecher zwar
laut werden muss, um die Hördistanz zu überwinden, jedoch
nur so laut, als es nötig ist, sie überhaupt zu überwinden.
Der Angerufene rückt durch die Überwindung
der Distanz in Kontaktnähe, selbst wenn er persönlich nicht
erscheint, das heißt, der Angerufene wird dem Anrufer zumindest
in seiner Vorstellung präsent (Shixian).
Der Anrufer fasst das Angerufene, gleichgültig ob es sich um
ein Ding- oder Lebewesen handelt, als ein Du auf ("Du-Einstellung"),
als ein Wesen mit Seele und Geist, zumal er im Anrufen an das
Verstehensvermögen des Gegenübers appelliert. Auf diese
Weise kommt es zu einer Personalisierung nicht-personaler Wesen
(Zhuanhua).
6. Einteilung und Arten
Das Hugao wird je
nach dem eingeteilt, ob es allein oder in Kombination mit anderen
Wortzurechtlegemustern auftritt. Die Wortzurechtlegemuster, mit
welchen es kombinieren kann, sind die "Präsentation"
(Shixian) und die "Verwandlung" (Zhuanhua). Das Hugao
könnte ebenso gut eine Unterart sowohl der "Präsentation"
bilden, zumal durch das Anrufen tatsächlich abwesende Personen
vergegenwärtigt werden, wie auch der "Verwandlung",
weil durch das Anrufen nicht-personale Gegenstände
personifiziert werden.
Klassifikation - Überblick
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a) "Gewöhnliches Anrufen"
(普通呼告
putong
hugao)
Das "gewöhnliche Anrufen" besteht im Anrufen eines
anwesenden Menschen, dessen Aufmerksamkeit der Anrufer auf sich und
seine Sache lenkt. Im folgenden Beispiel ruft der mythische Kaiser
Yao die beiden Diener Xi und He, welche den Auftrag haben, den
Kalender exakt zu bestimmen.
Beispiel
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咨,
汝羲暨和.
朞三百有六
旬有六日,
以閏月定四時
成歲.
Zi, ru Xi ji He. Ji
san bai you liu xun liu ri, yi run yue ding si shi
cheng sui.
|
Ah, ihr, Xi und He! Ein ganzes Jahr besteht aus
dreihundert [Tagen] und sechs Dekaden und sechs Tagen, durch
einen Schaltmonat bestimmt man die vier Jahreszeiten und
vervollständigt [die Ermittlung] des Jahres.
("Buch der
Urkunden")
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b) "Präsentierendes Anrufen"
(示現呼告
shixian
hugao)
Das "präsentierende Anrufen" besteht im Anrufen
eines abwesenden Menschen, welcher durch das Anrufen vergegenwärtigt
wird. Wie die absente Person und die Ereignisse um die Person durch
ihr Anrufen im Bewusstsein auftauchen und gegenwärtig werden
können, zeigt das folgende Beispiel.
Beispiel
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這過的是什麼日子!
我這
心上壓得多重呀!
眉,
我的眉,
怎麼好呢!
霎那
間有千百件事在
方寸間起伏,
是憂,
是瞻
前,
是顧後,
這筆上那
能寫出?
Zhe guo de shi shenme
rizi! Wo zhe xin shang ya de duo zhong ya! Mei,
wo de Mei, zenme hao ne! Sha na jian you
qian bai jian shi zai fangcun jian qifu,
shi you, shi zhan qian, shi gu hou, zhe bi shang na
neng xiechu?
|
Was da vorübergegangen ist, was war das für ein Tag!
Wie schwer ist mein Herz bedrückt! Mei, meine Mei, wie
gut! Im Nu tauchen hunderte Sachen im Innern auf und nieder,
der Kummer, der Blick nach vorne, der Blick zurück, wie kann
dieser Stift das beschreiben?
(Xu Zhimo "Mei")
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c) "Vermenschendes Anrufen"
(人化呼告
renhua
hugao)
Das "vermenschende Anrufen" bewirkt sprachlich die
Anthropomorphisierung eines nicht-menschlichen Gegenstands (Ding,
Pflanze, Tier, übermenschliches Wesen). In den folgenden
Beispielen ist es einmal das Laub, einmal das Schiff, das zu einem Du
mit Seele und Geist wird ("Du-Einstellung").
Beispiele
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蘀兮蘀兮,
風其吹女.
叔兮伯兮,
倡予和女.
Tuo xi tuo xi, feng qi chui ru.
Shu xi bo xi, chang yu he ru.
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O dürres Laub, o dürres Laub, / wie du
dahintreibst im Wind! / Jüngerer Onkel, älterer
Onkel, / singt, ich stimme mit euch ein!
("Buch der
Lieder")
|
船呀!
我知道你不問
前途,
儘直奔那逆流的
方向.
Chuan ya! Wo zhidao ni
bu wen qiantu, jinzhi ben na niliu de
fangxiang.
|
Schiff! Ich weiß, du fragst nicht nach dem kommenden Weg
[der Zukunft], eilst schnurstracks in die Richtung
stromaufwärts.
(Kang Baiqing "Huang
Pu")
|
B. Die Gebrauchsregeln
Das Anrufen wirkt nur
dann ungekünstelt und echt, wenn es von einem Pathos
hervorgebracht und getragen wird, das selbst wiederum von der
Situation gefordert wird, so dass gleichsam nicht eine
argumentatorische, sondern emotionale Stringenz der Bildung zugrunde
liegt (Forderung nach emotionaler Stringenz). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 386) Der Autor
schrieb das folgende Gedicht anlässlich der Eroberung
Koreas durch die Japaner.
Regelrechtes Beispiel
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片片破碎的名字啊!
/ 在
虛空中破裂而遠颶的
名字啊!
/ 呼喊也沒有人
回答的名字啊!
/ 我高喊,
雖
死也要高喊的名字啊!
/
心中剩留的一句話,
/
終於說不盡了.
/ 我親愛的
情人哪!
/ 我親愛的情人
哪!
Pianpian posui de mingzi a! / Zai
xukong zhong polie er yuan yang de mingzi a!
/ Huhan ye mei you ren huida de mingzi a! / Wo gao
han, sui si ye yao gao han de mingzi a! /
Xin zhong shengliu de yi ju hua, /
zhongyu shuo bujin le. / Wo qinai de
qingren na! / Wo qinai de qingren na!
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Vielfach zerstückelter Name! / In der Leere zerbrochener und
verwehter Name! / Name, auf den auch geruft keiner antwortet! /
Ich rufe ihn laut, obschon er tot ist, dennoch ist es ein laut zu
rufender Name! / Im Herz ist ein Satz zurückgeblieben, / am
Ende nicht fertig ausgesprochen. / Meine liebe Geliebte! / Meine
liebe Geliebte!
(Jin Suyue "Seele"
)
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Die Anrufe sollen kurz
sein. Sind sie zu lang, drohen sie dem Gedächtnis des
Angerufenen zu entschwinden, und es wird ihm unmöglich, sie zu
beherzigen (Forderung nach Kürze). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 287)
Regelrechtes Beispiel
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國民!
國民!
究成何心?
不能乎?
不行乎?
不知乎?
Guomin! Guomin! Jiucheng
he xin? Bu neng hu? Bu xing hu? Bu zhi hu?
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Landsleute! Landsleute! Was wollt Ihr eigentlich? Nicht können?
Nicht handeln? Nicht wissen?
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(Sun Zhongshan "Vorwort")
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