28. Cuozong 錯綜 "Verhedderung"
Werden die Worte so zurechtgelegt, dass sie sich teils wortwörtlich, teils synonym wiederholen, so wendet man eine Form des "Cuozong" an.
Beispiele
Klassisches Chinesisch
得既在我, 失亦在予.
De ji zai wo, shi yi zai yu.
Die Verdienste gebühren mir, die Fehler aber gebühren mir auch.
Quelle: Liu Zhiji "Geschichtsschreibung",
siehe Xiucixue
S. 350
Modernes Chinesisch
因為我總是在挑剔, 總是在選擇.
Yinwei wo zong shi zai tiaoti, zong shi zai xuanze.
Weil ich stets mäklerisch bin, stets wählerisch bin.
Quelle: Gao Dapeng "Abschied",
siehe Xiucixue
S. 350
Erinnert an ...
Gibt es eine ähnliche Figur in
der Rhetorik, Stilistik oder Linguistik?
Ausführliche Erklärung
Der folgende Text ist gleich dem im Buch Xiucixue S. 347 ff.
A. Das Wortzurechtlegemuster
1. Hinführung
Die erste und die letzte Strophe des folgenden
Gedichts von Friedrich Nietzsche sind beinahe gleich:
Abschied
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"Die Krähen schrei'n
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Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
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Bald wird es schnei'n,
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Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
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Nun stehst du starr,
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Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
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Was bist du Narr
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Vor Winters in die Welt entflohn?
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Die Welt – ein Thor
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Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
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Wer Das verlor,
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Was du verlorst, macht nirgends Halt.
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Nun stehst du bleich,
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Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
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Dem Rauche gleich,
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Der stets nach kältern Himmeln sucht.
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Flieg', Vogel, schnarr'
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Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! ?
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Versteck', du Narr,
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Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
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Die Krähen schrei'n
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Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
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Bald wird es schnei'n,
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Weh dem, der keine Heimat hat!"
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Einzig die beiden Sätze Wohl dem, der jetzt noch –
Heimat hat! und Weh dem, der keine Heimat hat!
unterscheiden sich, wobei der zweite nur das in negativer ausspricht,
was der erste in positiver Form besagt. Liest man die letzte Strophe
in Erinnerung an den Wortlaut der ersten, so stellt sich eine
Erwartung ein, deren Erfüllung durchbrochen wird.
"Durchbrochen", das heißt, die Erwartung wird zuerst
erfüllt, dann nicht mehr erfüllt ... und doch erfüllt,
erfüllt, weil sich der Wortlaut zwar abändert, der Sinn
aber wenn nicht identisch so doch ähnlich bleibt.
Das ist wesentlich für diese Weise der "Verhedderung":
1. Es muss sich etwas wiederholen.
2. Die Wiederholung muss eine Erwartung auf das Wiederholte
wecken.
3. Die Erwartung muss dadurch enttäuscht werden, dass das
Wiederholte nicht wortwörtlich der Vorlage entspricht.
4. Die Erwartung muss in anderer Weise erfüllt werden und
zwar dadurch, dass statt der wortwörtlichen Wiederholung eine
sinngemäße Wiederholung steht.
5. Vorlage und Wiederholtes, Übereinstimmung
und Abweichung, müssen abschließend in einem synthetischen
Bewusstseinsakt geschaut und erkannt werden.
2. Das Wort "cuozong"
錯
cuo
bedeutet "falsch". Da sich das Wort 綜
zong
wie noch einige andere in Dichtung und Alltagssprache stets
wiederkehrende Wörter vom Bild des Webstuhls herleiten, sei im
Folgenden kurz dessen Aufbau beschrieben. Die Kettenfäden (經
jing) sind
jene Fäden, welche zum Bauch des Webers führen. Dieser
schießt mit dem Webschiffchen (梭子
suozi) den
Faden (線 xian)
durch die Kettenfäden, welche, untereinander alternierend, auf-
und absteigen. Auf diese Weise entsteht das Stoffgeflecht. Um die
Kettenfäden zu führen, sind senkrecht Schnüre, die
Webelitzen (綜
zong:
der zweite Teil im Wort "cuozong") gespannt, durch deren
Öffnungen je ein
Kettenfaden läuft. Verheddern sich die Litzen, verheddern sich
auch die Kettenfäden, und der Stoff kann nicht mehr gewoben
werden, weil das Ganze 錯綜復雜
cuozong
fuza "verheddert und kompliziert" wird.
3. Begriffsbestimmung
Als Definition von Cuozong im weiteren Sinn mag
die Formel 整齊中有
變化,
變化中有整齊
zhengqi
zhong you bianhua, bianhua zhong you zhengqi
"im Gleichmaß gibt es Wandel, im Wandel gibt es Gleichmaß"
von Huang Qingxuan (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 528) gelten. Im Folgenden wird nur eine Form
des Cuozong behandelt, nämlich das 互辭
huci
"wechselseitige Worte" (陳望道 Chen Wangdao: 修辭學發凡 Xiucixue fafan "Grundriss der Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Shanghai, Jiaoyu chubanshe 1979, S. 214), das hier beispielhaft für
das Cuozong im Allgemeinen steht. Die Beschränkung erscheint mir
notwendig, weil unter das Cuozong Sprachphänomene subsumiert
werden, die zwar z.T. an das Bild der "Verhedderung"
erinnern, welchen aber keine einheitliche relationale Struktur
eignet.
Das Cuozong in der Form des Huci ist das Resultat der Wiederholung
einerseits der relationalen Beziehung einer Reihe von sprachlichen
Elementen (Iteration der Relation), anderseits das Ergebnis der
Substitution eines Teils der
Elemente durch Äquivalente (Substitution durch Synonyme).
Die übrigen sprachlichen Elemente des Relationsgefüges
können entweder wiederholt, durch bedeutungs-verschiedene oder
antonyme Wörter ersetzt, oder ausgelassen werden. Auf diese
Weise entsteht eine Einheit aus Gesetzmäßigkeit
(Gleichmaß) und Offenheit (Wandel). Dass sich die Beziehung
der Elemente voraussagbar wiederholt, macht die Gesetzmäßigkeit
und das Gleichmaß aus; dass die Voraussagung sich an den
Äquivalenten erfüllt
und nicht erfüllt zugleich, die Offenheit als Ergebnis eines
Wandels.
4. Beispiele
In den folgenden drei Beispielen wird einerseits die relationale
Struktur der Wortklassenabfolge wiederholt, anderseits ein einzelnes
Wort synonym iteriert. Im ersten Beispiel ist es das Wort 吾
wu "ich",
das in der Wiederholung durch das Synonym 我
wo
"ich" ersetzt wird (ebenso 糧
liang –
食 shi).
Im zweiten wird das Wort 我
wo
"ich" in der Wiederholung durch das Synonym 予
yu "ich"
substituiert. In dem letzten Textauszug kehrt ein Teil des Satzes
wörtlich, der Rest synonym wieder. Auf diese Weise wird in allen
drei Fällen sowohl eine Erwartung erzeugt, als auch erfüllt
und nicht erfüllt zugleich.
Klassisches Chinesisch
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吾無糧,
我無食.
Wu wu liang, wo
wu shi.
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Ich habe kein Getreide, ich habe kein Essen.
(Zhuangzi "Berg")
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得既在我,
失亦在予.
De ji zai wo, shi
yi zai yu.
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Die Verdienste gebühren mir, die Fehler aber gebühren
mir auch.
(Liu Zhiji
"Geschichtsschreibung")
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Modernes Chinesisch
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因為我總是在挑剔,
總是在選擇.
Yinwei wo zong shi
zai tiaoti,
zong shi zai xuanze.
|
Weil ich stets mäklerisch bin, stets
wählerisch bin.
(Gao Dapeng
"Abschied")
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5. Keine Einteilung
B. Die Gebrauchsregeln
Vermittels des Cuozong
soll möglichst ein Sachverhalt beschrieben werden, welcher in
veränderter Spielart wiederkehrt (Forderung nach
formal-inhaltlicher Korrespondenz). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 546)
Die Wiederholung ohne Variation
wirkt nicht selten zwanghaft erstarrt. Das Cuozong soll in einem
solchen Fall helfen, das Starre aufzulockern, um einen lebhaften und
freien Eindruck zu vermitteln (Forderung nach Gebrauch des Cuozong
als Mittel der Auflockerung der Wiederholung). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 547)
Der Beginn der Wiederholung erweckt
eine Erwartung auf den Rest nach Maßgabe des Vorbilds, die
verwandelte Abänderung des Kommenden hingegen überrascht.
Daher soll das Cuozong insbesondere dann gebraucht werden, wenn der
Hörer oder Leser überrascht werden soll (Forderung nach
Gebrauch des Cuozong als Mittel
der Überraschung). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 548)
Regelrechtes Beispiel
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我要走那很遠的地方,
一個不知名的地方;
我要走那很遠的路程,
尋回我往日的夢.
Wo yao zou na hen yuan de difang,
yi ge bu zhiming de difang;
wo yao zou na hen yuan de lucheng,
xunhui wo wangri de meng.
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Ich möchte zu jenem ganz fernen Ort gehen, einem Ort mit
unbekanntem Namen; ich möchte auf jener ganz fernen Strecke
gehen, die Träume meiner vergangener Tage zurücksuchen.
(Hong Xiaoqiao
"Weg")
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Das Cuozong soll nach
einem Wort von Lin Yutang wie die Haare Brigitte Bardots ordentlich
wild und wirr und in aller Nachläßigkeit nach einer
Maßgabe doch kalkuliert sein (Forderung nach kalkulierter
Berechnung des Zufalls). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 548)
Ein Text, welcher sich formal
ständig abändert, droht chaotisch zu wirken. Das Variieren
vermittels des Cuozong soll deshalb maßvoll geschehen
(Forderung nach Chaos-Prävention). (黃慶萱 Huang Qingxuan: 修辭學 Xiucixue "Lehre vom Zurechtlegen der Worte", Taibei, Sanmin shuju 1988, S. 549)
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